Mehr Mut zur Wildheit!

Europäischer Urwald
Mut zur Wildheit: Europäischer Urwald im Białowieski Park Narodowy, Polen. Foto: Ralf Lotys/Wikipedia

„Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren - die Entdeckung einer verborgenen Welt “ von Peter Wohlleben

 

Seit Monaten ist dieses Buch die Nummer eins auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ein Buch über Bäume, erzählt von einem Förster.  Was kann daran bestsellerwürdig sein, nachdem es doch Bäume seit Jahrmillionen und Förster seit Jahrtausenden gibt. Schon so mancher hat über Wald und Bäume geschrieben, ohne nennenswerte Auflagen zu erzielen. Eines der Geheimnisse von Förster Wohllebens Erfolg ist, dass er weder den Nutzwald mit seinen Baumplantagen verherrlicht, noch zum soundsovielten Male dessen Untergang an den Horizont malt, sondern das faszinierende Zusammenleben der Bäume erklärt. Dabei kommt wirklich Erstaunliches zutage – zum Beispiel dass wir in Deutschland und Europa zu ursprünglichen Wäldern zurückkehren sollten. Aus immer mehr Forsten, die sich heute schon selbst überlassen bleiben, sollen die  Urwälder von morgen entstehen.

 

Langjähriger Umgang mit Wald und Bäumen macht nicht nur erfahren, sondern auch gelassen. Die Angst vor einem Waldsterben und die Aufregung um alljährlich erstellte Waldschadensberichte hat naturfernere Menschen in Ballungsgebieten stets mehr umgetrieben als Menschen, die mit Wäldern zu tun hatten. Alte Waldbauern verwiesen schon immer darauf, dass es doch kaum gänzlich gesunde Menschen gibt, wenn diese erst einmal 50 Jahre alt geworden und damit in der Lebensmitte angekommen seien. Das entspreche etwa auch dem halben Durchschnittsalter eines modernen Nutzbaumes. Beide, Baum und Mensch, hätten in diesen Jahren allesamt irgendwelche kleinen oder großen Leiden, mit denen sie aber durchaus weiterhin leben könnten. 

Bäume brauchen viel Zeit, abrupte Änderungen vertragen sie nicht

In der Baumgesellschaft, also im Wald, so Förster Peter Wohlleben in seinem Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“, sei es genauso „wie bei uns Menschen“: Der vorgezeichnete Weg eines Baums könne sich eines Tages aus vielerlei Gründen ändern. „Sein Gesundheitszustand ist davon abhängig, wie stabil der Wald als Ökosystem ist.“  Zum Beispiel sollten sich Temperatur, Feuchtigkeit und Belichtung nie abrupt ändern, denn Bäume hätten ein sehr langsames Reaktionsvermögen.  Um auch hierfür noch einmal eine alte Waldbauernerfahrung zu zitieren: Bei sehr trockenen, heißen Sommern starben und sterben sogar trockenresistentere Nadelbäume wie die Weißtanne ab, weil die Bäume das ungewohnte Austrocknen des Bodens einfach nicht verkraften. Der von Wohlleben genannte Faktor „abrupter Feuchtigkeitsverlust“ wird ihnen zum Verhängnis.

Wenn der Wald so richtig würzig riecht, desinfizieren die Bäume ihre Umgebung mit Abwehrstoffen, sogenannten Phytonziden

Aber selbst wenn solche äußeren Umstände nicht Ursache sind, können Bäume von Insekten (Borkenkäfern), Pilzen, Bakterien und Viren befallen, geschädigt oder gar umgebracht werden. Doch, so Wohlleben, dies könne den Schadorganismen grundsätzlich nur gelingen, „wenn der Baum aus seiner Balance gerät.“ Zudem hielten vitale Bäume stets eine stille Reserve zur Abwehr von Schadorganismen bereit. Bäume könnten damit „ihre Umgebung regelrecht desinfizieren.“ Bei diesen Abwehrstoffen handle es sich um sogenannte Phytonzide. Die von Nadelbäumen, erläutert Wohlleben, sind jedem Waldspaziergänger bekannt: „Es ist der würzige Waldduft, der speziell an heißen Sommertagen intensiv wahrzunehmen ist. Es sind solche Informationen, die dafür ausschlaggebend sein dürften, dass Wohllebens Buch ein Bestseller geworden ist: Der Autor erklärt das faszinierende Leben in einem Wald, das kaum ein Spaziergänger bisher auch nur erahnte. 

Wie Waldgänge unseren Blutdruck beeinflussen können

Wer jetzt an Sommertagen im Wald spazieren geht, weiß, dass die so angenehm und beruhigend riechende Luft im Schatten der Bäume von deren Abwehrstoffen kommt, die sie gegen Krankheiten und Schädlinge ausatmen. Diese Stoffe in der Atemluft könnten laut Wohlleben bei menschlichen Waldgängern sogar den Blutdruck beeinflussen: unter Nadelbäumen steige er an, in Eichenwäldern falle er entspannt ab. 

Totgeglaubte leben länger: Warum Bäume Jahrhunderte lang geborstene Artgenossen vor dem völligen Absterben bewahren 

„Bäume sind sehr sozial eingestellt und helfen sich gegenseitig“, hat Forstmann Wohlleben u.a. durch fast unheimlich anmutende eigene Beobachtungen  herausgefunden. Er sei in seinem Revier viele Male an einer Gruppe von bemoosten Steinen vorbeigekommen. Irgendwann sei ihm die eigenartige Form aufgefallen, leicht gebogen, mit Hohlräumen, und er habe das Moos etwas angehoben. Da stellte sich heraus, dass es gar keine Steine waren, sondern Rudimente einer seit langer Zeit totgeglaubten Buche, mit echter Rinde und darunter grünem Chlorophyll, wie es in Blättern vorkommt und unter Rinden lebendiger Bäume. „Es handelte sich um die knorrigen Reste eines riesigen, uralten Baumstumpfs“, schreibt Wohlleben und man hört noch aus diesen Zeilen heraus, wie perplex er war. Von dem Stumpf war nur noch der äußere Rand vorhanden, das Innere längst zu Humus verfault. Gefällt wurde die Buche vor 400 bis 500 Jahren, schreibt Wohlleben. Damit hat sie möglicherweise während des Dreißigjährigen Krieges ihr Ende gefunden. 

Fichtenplantage
Typischer Nutzwald: Monokultur Fichtenplantage. Foto: Gillles San Martin/WIkipedia.

„Doch wie konnten  sich die lebenden Überreste so lange halten?“ – Es ist beinahe unheimlich, was Förster Wohlleben herausgefunden hat: der Stumpf des vor Jahrhunderten gefällten Baumriesen bekam Unterstützung von den Nachbarbäumen. „Die umgebenden Buchen pumpten ihm ihre Zuckerlösung hinüber, um ihn am Leben zu erhalten.“ – Mit ihrem eigenen „Blut“, über ein Geflecht von Pilzmyzelien und Wurzeln hielten sie die Baumleiche am Leben.

 

„Freundschaften“ nennt Wohlleben dieses Kapitel, in dem er über Nachbarschaftshilfe und Nährstoffaustausch zwischen Bäumen berichtet. Eigentlich könnte es durchaus  auch „Schicksalsgemeinschaften“ heißen, nachdem benachbarte Lebewesen sich im Wald anscheinend über Jahrhunderte  die Treue halten und sogar das Leben eines geborstenen Artgenossen quasi mit und für ihn weiterleben. Einige Bäume seien über ihr Wurzelgeflecht so innig verbunden, schreibt Wohlleben,  „dass sie manchmal sogar gemeinsam sterben.“ 

Ein Baum ist kein Wald, nur viele zusammen können ein Ökosystem bilden

Und was ist der Grund für einen derart starken Zusammenhalt? „Ein Baum ist kein Wald“, stellt Wohlleben fest. Nur viele zusammen können ein Ökosystem bilden, „das Hitze- und Kälteextreme abfedert, eine Menge Wasser speichert und sehr feuchte Luft erzeugt. In so einem Umfeld können Bäume geschützt leben und uralt werden. Um das zu erreichen, muss die Gemeinschaft um jeden Preis erhalten bleiben. Würden sich alle Exemplare nur um sich selbst kümmern“, führt der Experte aus, dann würde so mancher Baum die Altersphase niemals erreichen.

 

Bäume bilden Wälder, die sie zu idealen Ökosystemen für sich ausbauen. Bäume können ihre Umgebung regelrecht desinfizieren, indem sie Abwehrstoffe verdunsten, die die Waldluft erfüllen. Bäume halten zusammen, bilden Freundschaften und Schicksalsgemeinschaften sogar über Jahrhunderte. Und sie können sprechen. 

Die Sprache der Bäume: Sie verständigen sich über Feinde, über nahende Katastrophen, über Abwehrstrategien

Die Sprache der Bäume artikuliert sich in Duftstoffen, berichtet Wohlleben. Ausdrucksmittel sind Substanzen, die von anderen Bäumen entziffert werden und ihnen so die Gefahr signalisieren, wenn beispielsweise Fressfeinde  unterwegs sind. Wohlleben schreibt, dass daraufhin manche Arten innerhalb von Minuten Giftstoffe in ihre Blätter einlagern. Sowohl Tiere als auch Insekten  würden die Gefahr erkennen und anderswo ihren Hunger stillenAppetit frönen, dort, wo Bäume noch ahnungslos sind, weil die Warnsubstanzen sie noch nicht erreicht haben. 

 

Wurzeln, Blätter, aber auch Pilze mit ihren unterirdischen Fäden arbeiten in der Kommunikation des Waldes zusammen. Dadurch gelingt es den Bäumen, Nachrichten über drohende Insektenangriffe aber auch über aufkommende Dürre zum Beispiel auszutauschen.  Wohlleben: „Mittlerweile spricht sogar die Wissenschaft von einem ‚Wood-Wide-Web‘, welches unsere Wälder durchzieht. Was und wie viel da ausgetauscht wird, ist bis heute höchstens ansatzweise erforscht.“ 

 

„Wir sollten uns also vielleicht auf unsere menschliche Sprache nicht zu viel einbilden. Sie ist nur eine Art der Kommunikation unter vielen. Eine Minderheitensprache. Pflanzen können mit vielen anderen Lebewesen in Kontakt treten. Ihre Botschaften erreichen nicht nur Artgenossen, sie kommunizieren auch mit Insekten. Das vermögen wir Menschen nicht.“ (Aus: „Vegetarismus – Irrtum und Heuchelei der Pflanzenesser").

Lasst die Wälder von der Kette!

Förster Wohlleben plädiert eindringlich für Wälder, die „von der Kette gelassen“ werden. Gemeint sind solche, in denen die Natur selbst das Regiment führt und nicht der reine Holznutzer, der Plantagen aus schnellwachsenden Fichten bevorzugt. Solche Plantagen-Wälder seien nicht „in der Balance“. Sie müssen daher oft mit chemischen Keulen, die man gegen Insekten und Pilze einsetzt, am Leben erhalten werden. Erst knapp zwei Prozent des deutschen Waldes sei in die Freiheit entlassener Wald, der  einmal  zum Urwald von morgen werden könne.  „Das klingt zunächst wenig und ist im Vergleich zu tropischen Staaten, denen wir immer wieder Vorhaltungen in Bezug auf den mangelnden Schutz ihrer Regenwälder machen, geradezu beschämend.“ Aber es wäre ja ausbaufähig.

 

Forstmann Wohlleben schließt mit einem Appell: „Über 90 Prozent der Sturmschäden gehen von Nadelbäumen aus, die in instabilen Plantagen wachsen und bereits bei Windböen um 100km/h umfallen. Mir ist kein einziger Fall bekannt, bei dem ein alter und schon länger nicht mehr bewirtschafteter Laubwald Opfer eines solchen Wetterereignisses wurde. Von daher kann ich nur die Parole ausgeben: Mehr Mut zur Wildheit!“ 

 

Die Kapitel des Buches lauten:

Freundschaften – Die Sprache der Bäume – Sozialamt – Liebe – Baumlotterie – Immer schön langsam – Der Baumknigge – Baumschule – Gemeinsam geht’s besser – Rätselhafter Wassertransport – Bäume stehen zu ihrem Alter – Die Eiche, ein Weichei? – Spezialisten – Baum oder nicht Baum – Im Reich der Dunkelheit – CO2-Staubsauger – Die hölzerne Klimaanlage – Wasserpumpe Wald – Mein oder dein? – Sozialer Wohnungsbau – Mutterschiffe der Biodiversität – Winterschlaf – Zeitgefühl – Charaktersache – Der kranke Baum – Es werde Licht – Straßenkinder – Burn-out – Auf in den Norden – Ganz schön resistent – Stürmische Zeiten – Neubürger – Gesunde Waldluft? – Warum ist der Wald grün? – Von der Kette gelassen – Bioroboter.

 

Zur Person des Autors:

Peter Wohlleben, geboren 1964, studierte Forstwirtschaft und arbeitete 23 Jahre in der Landesforstverwaltung Rheinland-Pfalz. 2006 gab er seine Stelle auf und übernahm als Förster ein 1200 Hektar großes Waldgebiet in der Eifel. Dort setzt er seine Vorstellungen von einem ökologisch wie ökonomisch vertretbaren Naturschutz erfolgreich um. Nebenbei entdeckte er seine Lust am Schreiben. Er ist Gast in zahlreichen TV-Sendungen und gibt sein Wissen in Büchern und Seminaren, aber auch durch ungewöhnliche Events wie den Bau von Blockhäusern weiter. 

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Rezension zu „Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren - die Entdeckung einer verborgenen Welt “ von Peter Wohlleben, Ludwig Verlag 2015, 224 Seiten, 19,99 Euro, ISBN-13: 978-3453280670.

Vom selben Autor ist vor einigen Jahren auch dieses Buch erschienen:

 

Der Wald – ein Nachruf. Wie der Wald funktioniert, warum wir ihn brauchen und wie wir ihn retten können - ein Förster erklärt. Ludwig Verlag 2013, 256 Seiten, 19,99 Euro, ISBN-13: 978-3453280410.

 

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