Upcycling 2: Wie Alltagsprodukte zu Kunst werden

Sattelgesicht von Holger Schenk
Sattelgesicht von Holger Schenk. Der Künstler hat - wie vor ihm Pablo Picasso für das Pferd - in der Sattelform den Schädelumriss entdeckt. Foto: H. Schenk

Pablo Picasso, Marcel Duchamp und Andy Warhol haben mit dem Wormser Fahrradkünstler Holger Schenk eines gemeinsam: Ihre Ausgangsmaterialien,

um daraus Kunst zu machen, sind Alltagsgegenstände. Duchamp montierte ein Fahrrad-Rad auf einen Hocker. Picasso arrangierte einen Fahrradlenker und einen Sattel zum Schädel eines Stieres. Warhol malte Konservendosen und baute Seifenverpackungen nach. Upcycling wurde von Künstlern erfunden. Schenks Kunst setzt diese Tradition fort, mit aufregenden Ergebnissen. Und sein Metier ist wieder das Fahrrad – Fahrrad, sagt er, ist Kunst.

Untrennbar verbunden ist das Entstehen derartiger schöpferischer Werke aus vorhandenen Objekten mit der künstlerischen und literarischen Bewegung des Dadaismus, die ihren Anfang in der ersten Hafte des 20. Jahrhunderts genommen hatte. Sie verstand sich als Protest gegen jegliches Establishment. Politik, Gesellschaft und vor allem Kunst nahm Dada aufs Korn und stellte alte Formen radikal in Frage. Das reine Betrachten von Kunst, die retinale Ausrichtung von Kunst für das Auge, die Effekthascherei des Künstlers, der damit Bewunderung erheischte, wollten die Dadaisten beenden. Sie verbanden mit ihren neuen stilistischen Elementen eine Aufforderung zum Denken, zum Hinterfragen von Bedeutung und stellten ihre Arbeit auf bewusst provokante Weise in einen Gegensatz zur „Museumskunst“.

Upcycling 2: Marcel Duchamp erfindet das Readymade

Zu den Künstlern, die nach dem Ersten Weltkrieg als Dadaisten firmierten, gehörte als einer der Gründerväter und besonders einflussreichen Protagonisten der französische Maler und Objektkünstler Marcel Duchamp. Er ist der Erfinder des besonderen Stils der Readymades. Es handelt sich, wie der Begriff sagt, um fertige Dinge, die zum Kunstobjekt erklärt oder in Kunstwerke integriert werden, ohne dass der Künstler am vorgefundenen Objekt wesentliche oder überhaupt Bearbeitungen vornimmt. Es sind tatsächlich vorgefundene Alltagsdinge, die man lediglich entsprechend präsentiert. Mit den Worten Marcel Duchamps: 

 

"Ein Kunstwerk existiert dann, wenn der Betrachter es angeschaut hat. Bis dahin ist es nur etwas, das gemacht worden ist, und wieder verschwinden kann, ohne dass jemand davon weiß."

 

Es geht also um den Akt der Auswahl, des in Szene Setzens durch den Beobachter, den Künstler. Wenn dessen Aufmerksamkeit auf ein Objekt fällt, entsteht in diesem Sinne Kunst.  

Upcycling 2: Erstes Readymade – das Fahrrad-Rad von Duchamp

Zwischen den beiden Weltkriegen erlebte der Stil der Readymades eine Fülle von Präsentationen. Duchamp montierte 1913 als erstes Readymade sein bekanntes Objekt Fahrrad-Rad. Es besteht aus einem hölzernen, weiß lackierten Hocker und einer schwarz lackierten Vorderrad-Gabel vom Fahrrad. Letztere ist auf die Sitzfläche des Hockers montiert, und in ihr dreht sich das Speichenrad. Es trägt den Titel Roue de Bicyclette/Bicycle Wheel. Das Werk ging später verloren. Es wurden einige Repliken angefertigt. Die früheste, noch erhaltene Replik aus dem Jahr 1951 befindet sich in der Sidney and Harriet Janis Collection des Museum of Modern Art in New York. Duchamp nannte das Fahrrad-Rad „ein Objekt persönlicher Erbauung“, eine technische Spielerei für ihn selbst in seinem Atelier.

Holger Schenk Libelle
Libelle aus Tretkurbel und Fahrradwerkzeug von Holger Schenk. Foto H. Schenk

Readymades sind auch in der gegenwärtigen Upcycling-Bewegung das Ausgangsmaterial: bereits vorhandene Dinge, die man up-cycelt. Seit den 1990er Jahren gibt es diesen Begriff. Grundgedanke ist hier ursprünglich die Müllvermeidung. Wenn vieles wieder verwendet wird, werden weniger Ressourcen verbraucht und es fällt sukzessive immer weniger Müll an. Im Vordergrund steht die Umwandlung und Aufwertung von altgewordenen Dingen zu neuen Gebrauchsgegenständen.

 

Den Dadaisten um Duchamp ging es um etwas völlig anderes. Als sie am Endes des Ersten Weltkrieges ihren neuen Stil kreierten, lag die Wegwerfgesellschaft noch in weiter Ferne. Dada ging es nicht um Müllreduzierung, sondern um die Reduzierung etablierter Kunst, um das Überwinden alter Formen, die sie radikal infrage stellten.  

Upcycling 2: Wie das Fahrrad zum Kunstobjekt wurde - eindrucksvolle Werke aus Zweiradteilen

Fahrrad-Gitarre von H. Schenk
Fahrrad ist Kunst - faszinierend die Gitarre, die Holger Schenk aufwendig aus Fahrradketten und Zahnrädern erschaffen hat. Foto: H. Schenk

Upcycling ist eine Massenbewegung geworden, auf Nützlichkeit bedacht. Die Readymades der Dadaisten entsprangen einer reinen Künstlerbewegung, einer Avantgarde, die in den Wirren zwischen den zwei großen, katastrophalen Kriegen entstand und aus Protest gespeist war.

 

Die Readymades der Dadaisten, ausgehend von Duchamp, haben wie gesehen das Fahrrad zum Kunstobjekt gemacht. Und das ist es bis zum heutigen Tag. Der Wormser Künstler Holger Schenk zum Beispiel gestaltet seit Jahren aus Fahrradteilen, die er verschraubt und verschweißt, eindrucksvolle Kunstwerke. Dazu gehören eine Libelle aus Tretkurbel und Fahrradwerkzeug. Sensibel nachempfunden vom Künstler ist der Körperbau des Insekts, das sich in den Dimensionen von Kurbel und Schraubenschlüsseln auf frappierende Weise zeigt. Zu Holger Schenks Werken gehört ein Skorpion aus Bremshebeln, ein Sattelgesicht mit großen Augen aus Zahnrädern. Bei Letzterem hat der Künstler - wie vor ihm Pablo Picasso - in der Sattelform den Schädelumriss entdeckt. Sehr eindrucksvoll ist auch eine Gitarre, die Holger Schenk aufwendig aus Fahrradketten und Zahnrädern erschaffen hat. Vor einem Jahr waren seine Kreationen unter dem Motto „Fahrrad ist Kunst“  im Wormser Kulturzentrum ausgestellt und hatten viele Besucher in ihren Bann gezogen.

 

Upcycling 2: Das Readymade Fahrradrahmen trägt den Stuhl „Eddi“

Fahrradstuhl EDDI
Der Farradstuhl EDDI - Holzschale getragen von einem Fahrradrahmen. Foto Stone Company

In Gütersloh hat die Firma Stone Company

ihren Sitz, die aus alten Fahrradrahmen als Untergestell und einer Formsitzschale aus Pagholz den Stuhl Eddi zusammenbaut. Ein Upcycling-Möbel aus Gebrauchtmaterialien, das verblüfft. Jeder Fahrrad-Stuhl ist aufgrund seiner Herkunft ein Unikat. Der Unterbau ist, wie Fahrräder auch, in diversen Farben erhältlich und auch die Sitzflächen haben unterschiedliche Tönungen, von sattem Rot über Grün und Braun bis Schwarz.

Die nicht mehr gebrauchstüchtigen Fahrräder, die als Stuhlbasis dienen, bezieht das Fertigungsunternehmen aus Recycling- oder Wertstoffhöfen. Normalerweise würden die alten Radrahmen verschrottet. Durch die Stone Company entstehen daraus nun Stühle. „Nicht wegwerfen sondern wiederverwerten“ lautet das Motto des Upcyclingunternehmens.   

Herstellung des Fahrradstuhls EDDI
Aus ausrangierten Fahrradrahmen, die in Recyclinghöfen landen, baut die Firma Stone Company ihren Fahrradstuhl EDDI. Foto Stone Company

Inzwischen kommen auch Fahrradbesitzer, deren Zweirad am Ende seines Daseins angekommen ist, in das Unternehmen um sich ihren ganz persönlichen Stuhl aus dem eigenen Fahrradrahmen bauen zu lassen. Ein Alterssitz der besonderen Art. 

 

Stone Company will nun weitere Produktideen mit ausrangierten Fahrradrahmen verwirklichen. Man denkt an Beistelltische, Hocker und Regalsysteme. Und das alles aus nicht mehr benötigten Fahrradteilen.

Upcycling 2: Wo sich Upcyclingbewegung und Readymades-Stil der Dadaisten berühren

Hier berührt sich die Upcyclingbewegung sichtbar mit dem Readymades-Stil der Künstler aus der Dada-Szene. Auch in den Beispielen aus Upcycling 1: Statt Müll ein zweites Leben, wo gezeigt wird, wie Waschmaschinentrommeln zu Stehtischen, Automobile zu Pool-Billards und Ölfässer zu Schränken mutieren, sind diese Annäherungen zu sehen. Im Fall des Fahrrad-Stuhls Eddi wird das Readymade, in diesem Fall der Fahrradrahmen, in das Sitzmöbel eingebaut. Das entstandene Produkt dient allerdings weiter als Gebrauchsgegenstand und wird nicht zum Kunstwerk sui generis im Sinne von Dada.

Upcycling 2: Duchamp, Großvater der Pop-Art – Andy Warhol sein berühmtester Enkel

In der Kunst selbst setzt sich der Wandel, der mit Duchamp und dem Dadaismus begann, auch später weiter fort bis in die Zeiten des Pop und bis in die Gegenwart. Duchamp kann durchaus als Großvater der Pop Art gelten. Nach ihm erhoben namhafte Künstler in der Nachfolge der dadaistischen Avantgarde Alltagsgegenstände aus Wirtschaft, Werbung und Massenproduktion zur Kunst. Einer der bekanntesten Dada-Enkel ist Andy Warhol. Der US-amerikanische Künstler mit russinischen Wurzeln in der Karpato-Ukraine wurde zum Mitbegründer und namhaftesten Vertreter der amerikanischen Pop Art.

 

Eines seiner bekanntesten Werke ist die Abbildung eines Kinostandbildes aus den 1960er Jahren  vom Film „Niagara“ mit Marilyn Monroe. Die grelle Überarbeitung in diversen Variationen lösten heftige Diskussionen aus, ganz so wie Dada es sich gewünscht hätte. Später kamen zur Monroe ähnliche Bilder und Drucke von Elvis Presley, James Dean, Liz Taylor. Die jeweiligen Ausgangsbilder Bilder waren wenn man so will, Warhols Readymades.

 

Warhol, ursprünglich Werbegrafiker, hatte ein gutes Gespür dafür, wie er durch schrille Farbgebung und bewusst unsauberen Auftrag der Farben eine ganz besondere Wirkung erzielen konnte – so richtig im Sinne von Anregung zum Denken und zur Auseinandersetzung – und solchermaßen auch zum Erfolg.

Upcycling 2: Suppendosen und Seifenpads zu Kunstwerken

Andy Warhol-Ausstellung mit typischen Objekten des Künstlers im Jahr 2007 zu seinem 20. Todestag in der Royal Scottish Academy in Edinburgh, Schottland.  Foto: Tom Rolfe http://www.flickr.com/photos/82581848@N00/1132318532
Andy Warhol-Ausstellung mit typischen Objekten des Künstlers im Jahr 2007 zu seinem 20. Todestag in der Royal Scottish Academy in Edinburgh, Schottland. Foto: Tom Rolfe http://www.flickr.com/photos/82581848@N00/1132318532

Für Warhol und die Vertreter der Popkunst wurde die Machart ihrer Werke immer wichtiger. Übertreibungen in der Darstellung machten auf die Manipulation aufmerksam, der sich Menschen durch Werbung und Massenmedien ausgesetzt sehen. Die übertrieben grelle Optik, mit der Originalvorlagen verändert wurden, trugen der Reizüberflutung Rechnung und gerieten zur Sensation.

 

Als dauerhafter Ausdruck der Pop Art blieb, was im Dadaismus begonnen hatte: Das Auswählen der Readymades und ihre In-Szene-Setzung. Besonders berühmt dafür sind zwei industrielle Produkte, die Andy Warhol als fertige Objekte für seine Kunst hernahm: die „große zerrissene Campells Suppendose (Schwarze Bohnen)“, eine Malerei in Acryl auf Leinwand. Das Readymade war eine Konservendose, die damals schon seit 50 Jahren in den USA im Handel war, und die jeder kannte. Nahezu hundert Mal hat Warhol die betagte Dose in unterschiedlichen Farben und Formaten präsentiert.

 

Ähnlich verfuhr der Pop-Art-Star mit den Brillo-Seifenpads von S C Johnson. Deren Verpackung, großformatig beschriftete Kartons, ließ er in großer Zahl in Holz nachbauen und bemalte sie wie das Original. Damit veranstaltete der Künstler Ausstellungen und erregte Aufsehen. Solchermaßen zur Kunst erhobene Alltagsgegenstände kennzeichnen die Pop Art. 

 

Readymades kommen indes nicht nur aus Industrieproduktion, Handwerk oder Bastlerwerkstätten, aus Grafikabteilungen oder Ateliers. Das fertige Ding, das Readymades-Objekt entsteht auch in der Natur. Die Erde, unser Planet, seine Atmosphäre, die Kräfte, die in und auf ihn wirken, Gezeiten und Meere über lange Distanzen, bringen ebenso fertige Formen hervor, die wir finden und für bedeutsam halten, die uns faszinieren.

 

Readymades oder auch Objet trouvé, wie die französischen Dadaisten solche wenig oder nicht bearbeiteten Fundstücke nannten, haben Menschen schon immer fasziniert. In der ursprünglichsten Form als Findlinge aus Stein, als archäologische Funde, die von der Erde bearbeitet und durch Rost und Verwitterung ihre besondere Ästhetik des Verfalls erhielten. Von solchen Schätzen, von der Erde geschaffen, von der Zeit modelliert, also von jenen Kräften, die sich als die ältesten und größten Künstler in der Geschichte des Planeten erwiesen haben, handelt die dritte Folge in einer der nächsten Ausgabe des Blogs. Ihr Inhalt: Wenn Kunst und Upcycling zusammenspielen - wenn Vergangenheit auf Zukunft trifft - die Erde als Künstler – GeomantikArt als neue, spannende Präsentation.

 

Die weiteren Beiträge zum Thema:

 

Upcycling 4: Wenn die Erde selbst upcycelt

 

Upcycling 3: Land Art - Gestaltung der Erde zum Kunstwerk

 

Upcycling 2: Wie Alltagsprodukte zu Kunst werden

 

Upcycling 1: Statt Müll ein zweites Leben

 

 

 

 

 

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