UPCYCLING 5 – Die Faszination des Untoten

Typisches Upcycling-Produkt: Gürtel aus einem alten Fahrradreifen. Gezeigt am 05. März 2016 in der rbb-Abendschau "Gleich nebenan"
Typisches Upcycling-Produkt: Gürtel aus einem alten Fahrradreifen. Gezeigt am 05. März 2016 in der rbb-Abendschau "Gleich nebenan"

Wer sich heute stets mit dem Allerneuesten umgibt, kann unversehens ziemlich alt aussehen. Denn die Zeiten, in denen jeder zweite Frühling mit einem neuen Möbelelement von Ikea begann, gehören der Vergangenheit an. Was heute neu erworben wird, ist nicht selten äußerst betagt. Trend-Möbel sind zum Beispiel bewusst mit dem Dekor des Verfalls ausgestattet. Das heißt, dass die Hölzer, aus denen sie bestehen, zum Teil richtig alt sind und schon einmal verwendet wurden: als Balken in antiken Villen oder Fußböden in Landhäusern. Selbst Türstöcke mit Patina finden sich in den Fronten von modernen Kommoden und Schränken wieder. Für das neue Möbelstück bedeutet neu in Wahrheit wiederverwendet oder mit dem Fachbegriff für diesen Trend: upcycelt.

Upcycling 5: Das Alte lebt als Reinkarnation im Neuen weiter.

Das Material, das in solchen Möbeln verbaut wird, führte bereits ein Leben in einem anderen Produkt. Man kauft Dinge mit Vergangenheit. Das Alte lebt als Reinkarnation im Neuen weiter. Ich war mal eine Kiste, ein Fußboden, ein Dachbalken.  - Man könnte, statt von Wiedergeburt zu sprechen, die eingebauten Elemente aus vergangenen Zeiten auch als untot bezeichnen. Antike Reste in teuren Modemöbeln verbaut, das hat schon auch etwas  Wiedergängerisch-Phantastisches. Palettenholz oder Fußbodenriemen in der Schauseite von Lowboards, von Wohnwänden oder Badspiegeln. Untotes dringt in die gediegene Umgebung unseres Wohnbereichs vor. Und das ist keine Sperrmüllphilosophie mit Schäppchenunterton, sondern erhebt den Anspruch eines besonderen Geschmacks, soweit es nicht nur der Nachhaltigkeit und Müllvermeidung dienen soll. (Das war mal die gutgemeinte Ur-Idee von Upcycling, als es in den 1990er Jahren erfunden wurde). 

Upcycling 5: Immer weniger Menschen besitzen etwas Altes

Der Trend für Upcycling speist sich inzwischen aus einer ganzen Reihe von Beweggründen. Altholz in neuen Möbeln, Upcyclingklamotten aus Lastwagenplanen und Kaffeesäcken, Upcycling-Handtaschen aus Fahrradschläuchen und Upcycling-Gürtel aus Fahrradreifen beruht auf einer bunten Palette von Empfindungen und Lebensgefühlen. Einerseits besitzen immer weniger von uns etwas Altes. Weder alte Häuser noch alte Bäume, weder alte Bücher noch ererbte Kleidung. Verschnörkelte, dunkle, schwere Möbel von verstorbenen Großeltern oder Tanten möchte man auf keinen Fall in seinen eigenen vier Wänden haben. Auch nicht das alte Tafelsilber oder die leinene Bettwäsche, die ganze Generationen gehütet hatten wie einen kostbaren Schatz. Die Antiquitätenwelle, die seit den 1970er Jahren bis etwa zur Jahrtausendwende über uns hinwegschwappte, ist in den letzten zehn Jahren zunehmend verebbt. Zeiten, in denen quasi jedes Wurmloch den Preis einer Kommode um einen Euro steigen ließ, sind vorbei. Der Nachfrage-Rückgang beträgt fast 90 Prozent. Der Upcycling-Hype ist im gleichen Zeitraum, in dem die Antiquitätennachfrage abebbte von null auf hundert angestiegen. (Google-Trends).

Upcycling 5: Im Upcycling, hat das Alte einen neuen Stellenwert

Im Upcycling hat das Alte einen neuen Stellenwert. Es ist nicht einfach betagt, sondern im besten Sinne untot und wiedergeboren. Ganz neu hergestellte Dinge sind im Allgemeinen zweckmäßig, oft Teile großer Serien, also meistens Massenprodukte, von denen eines aussieht wie das andere. Aber mit der eingebauten Vergangenheit von upcycelten Brettern und Dielen findet man sie, um beim Bespiel Möbel zu bleiben, plötzlich interessant, ja regelrecht faszinierend. Ein bisschen was Altes hat man dadurch ja auch, und das ist ein neuer, cooler Trend. Soviel Altes darf schon sein, das ist Teil des Hypes.

 

Aktuellen Generationen bedeutet es ganz offensichtlich nichts mehr, etwas aufzubewahren auf ewig und es „in Ehren zu halten“, sondern sie bedienen sich der Wiederkehr von etwas Gelebtem, die Umwandlung des längst Verbrauchten und Verblichenen, um ein interessantes Accessoire in ihre Einrichtung oder ihre Kleidung einzubauen. Ein bisschen was Altes lebt im Neuen. Nicht ein bestimmter Stil ist dabei gefragt, weder Stilmöbel noch stilvolle Kleidung. Eher fasziniert das Dekorative. Und da setzt Upcyceltes eben genau den richtigen Reiz. Es ist im Gegensatz zu Stil unverbindlich, ein Gag, ein Tupfer.

 

Upcycling für Billy: Ikea-Kult-Regal wird Badschrank
Upcycling für Billy: Ikea-Kult-Regal wird Badschrank

Vielleicht fing ja alles einmal damit an, dass plötzlich verwaschene Jeans zum Sakko getragen und in der Promi- und Modewelt akzeptiert wurden. Oder Turnschuhe als Ministeroutfit aufkamen. Das war, als das Billy-Regal von Ikea durchaus noch einen Stil verkörperte. Heute müsste wohl auch in diesem Möbel mindestens ein Brett aus einer betagten Obstkiste, einem alten Weinregal oder einer Europalette stammen, um noch als interessantes Objekt durchzugehen. Und tatsächlich, für Upcycling-Billys gibt es auch schon Beispiele. Hier eines, bei dem das Regal eine Tür aus einem Baumarktbrett abbekam, daran ein Griff  im Apothekerschrank-Style, so dass aus Billy dem Regal ein Upcycling-Badschrank wurde. 

Upcycling 5: Die Dekoration ist stylisch

Dieses spezielle Erscheinungsbild der Upcycling-Objekte inklusive all der dekorativen Elemente wird nicht mehr als Stil bezeichnet, sondern als stylisch (stylish). Und das bedeutet einfach, dass es gerade nicht einem definierten strengen Stil unterliegt, sondern dekorativ, schick, vielleicht auch aufsehenerregend und total modern zu sein hat. Auf jeden Fall cool. Ein Blickfang, ein Hingucker, der Eindruck macht. Im Jargon der Werbe-Glamour-Welt ein Eyecatcher.

 

Eigentlich soll das stylische Outfit oder die ebensolche Einrichtung auch noch individuell sein, so richtig unverwechselbar. Dafür erwirbt man Unikate. Gartenbänke aus Kabeltrommeln, Garderobeaufhänger aus Nähmaschinenteilen, Lampen aus alten Kameras. Allerdings droht angesichts der vielen Fahrradschlauch-Handtaschen, die derzeit geflochten werden, auch dem Stylischen wieder eine gewisse Uniformität. Bei Sitzgelegenheiten aus Rolltreppenelementen „mit garantiertem Eyecatcher-Faktor“ ist das noch nicht zu befürchten. Der Hersteller gibt sich sicher: „ Cooler und kreativer kann man sein Wohnzimmer wirklich nicht einrichten!“ 

 

Sitzmöbel aus Rolltreppenelementen: "Cooler und kreativer kann man sein Wohnzimmer wirklich nicht einrichten"
Sitzmöbel aus Rolltreppenelementen: "Cooler und kreativer kann man sein Wohnzimmer wirklich nicht einrichten"

Upcycling 5: Upcycling fasziniert, weil...

Upcycling fasziniert, weil es den Zwang eines bestimmten Einrichtungsstils, einer Bekleidungsmode, ja zum Teil sogar eines überkommenen Lebensstils überwindet. Das ist revolutionär, auch wenn es von der Generation Upcycling vielleicht gar nicht so empfunden wird, weil man es längst für normal hält.

 

Upcycling fasziniert, weil es eigentlich noch nie so war, dass sich alle in einem bestimmten Stil eingerichtet oder gekleidet haben – ob Landhaus, Bauernmöbel, Chippendale, Klassizismus oder Gelsenkirchener Barock, ob Haute Couture, alpenländische Folklore, Friesentracht oder Business-Look – und dass man das nun ganz locker auch leben darf, ohne anzuecken. Stil ist ja immer auch ein gewisser Zwang. Dass man im Upcycling-Look nun sogar seinen ureigensten Auftritt stylisch individuell selbst bestimmen kann, ist – jedenfalls noch - eher befreiend

 

Upcycling fasziniert, weil jetzt, im Zeitalter des Upcyclings, die Dekoration alles ist. Für die meisten waren die Pieta oder eine Nachbildung davon auf der Wohnzimmerkommode, die Bauerntruhe in der Schlafzimmerecke, der barocke Holzleuchter vom Antiquitätenmarkt auf dem Couchtisch schon von jeher nicht mehr als Deko: als ein Einzelstück, ein Kontrapunkt in der modernen, eher zweckmäßigen Einrichtung – eben eine Dekoration. Dieser Deko-Stil ist derzeit tonangebend. Die Generation Upcycling zelebriert ihn ganz zwanglos und selbstverständlich. Ein Regal oder eine Bar aus Europaletten, eine Garderobe mit Autoteilen als Aufhänger für die Gästekleidung in der ansonsten „normal“ eingerichteten Wohnung. Das ist cool.

 

Upcycling fasziniert, wenn bei Gästen ein Upcycling-Möbel oder die zur Uhr umfunktionierte Schallplatte an der Wand mehr Aufsehen erregen, als der Breitwand-Fernseh-Flachbildschirm, den inzwischen fast jeder hat oder sich um die Ecke kaufen kann. Mit Upcycling ist man cool. Man kann sich als Gastgeber bestätigt fühlen, im Geschmack, in den stylischen Dingen, mit denen man sich umgibt und die eben nicht jeder hat.

 

Upcycling fasziniert, weil die ausgesuchten Unikate, die man sich in seine vier Wände holt oder mit denen man sich kleidet, von keinem Verkäufer empfohlen wurden („das kleidet Sie sehr vorteilhaft“ – „das sieht in jeder Wohnung gut aus und wird immer wieder gern genommen“ – „das hat man heute“). Upcycling–Unikate, die so ganz anders neu sind als „übliche“ Einrichtungsgegenstände, sind daher auch in besonderem Maße Ausdruck einer versuchten Selbstverwirklichung durch Anderssein – etwas Besonderes zu haben, was andere cool finden, um das man vielleicht sogar beneidet wird. Zur Geschmacksavantgarde zu gehören, das kann das Selbstbewusstsein heben und tut gut auf dem Weg zur Selbstfindung. 

Upcycling 5: Viele, vielleicht allzuviele „steigen ins Upcycling ein“

Kunsthandwerk, Modeproduktion, Möbelmode gehen längst auf den Upcycling-Trend ein, bzw. springen auf den Zug auf. Was alt und wiederverwendet aussieht, verkauft sich offenbar immer besser. Inzwischen sind auch Schmuckhersteller dem Trend gefolgt und lassen so manches Glitzerding aussehen, als wäre es aus einer Dose gemacht oder im Abfall gefunden worden. Anhänger und Ketten aus Gold, Silber oder Platin, das ist Kunden und Designern heute einfach zu langweilig geworden. So entstehen zum Beispiel Ohrhänger aus Beton, Armbänder werden aus Laminat gefertigt oder Ringe aus Büchern herausgearbeitet. Im Upcycling bringt analog zur Antiquität, bei der einst jedes einzelne Wurmloch das gute Stück verteuerte, nun quasi jeder Rostfleck einen Euro mehr.

 

Auch Hilfsorganisationen entdecken im Upcycling ein neues Geschäftsfeld. Aktuelles aber keineswegs singuläres Beispiel: Deutschlands größter Wohlfahrtsverband ließ vor gut einem Jahr wissen: „Caritasbetriebe steigen ins Upcycling ein“. Gebrauchte Gegenstände würden „originell aufgemöbelt“ unter dem Label EiNZIGWARE. Die Übergänge zum Kunsthandwerk seien fließend. Man beschäftige „handwerklich Talentierte, die aufgrund von Vermittlungshemmnissen am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zum Zuge kommen, die Chance auf Beschäftigung hilft bei der Vermarktung.“

 

Viele, vielleicht allzuviele „steigen ins Upcycling ein“. Der Grad zwischen Mode und Marotte ist schmal. Die Ur-Idee war die der Müllvermeidung infolge einer Aufwertung alter Produkte und deren anschließender Wiederverwendung. So manches Einsteigen bringt heute auch Ramschproduktionen hervor, die selbst Müll ergzeugen. Da gibt es z. B. zu Tausenden Schutzengel auf Kaffeekapseln montiert. Inzwischen werden bereits leere Kaffeekapseln zum Kauf für die Schutzengel-Produktion angeboten.

 

Man kann ohne weiteres sagen, dass es so gut wie nichts gibt, was es im Upcycling nicht gibt. Manche machen Taschen aus Aktenordnern, andere stellen Möbel aus Kirchenbüchern her. 100 ausgemusterte „Gotteslob“- Kirchengesangbücher reichen aus, um daraus eine Tischplatte zusammenzuleimen. Ausrangiertes Hotelbesteck wird zu Kleiderhaken umgestaltet und aus Kleiderbügeln werden Flurlampen.

 

Neu ist Upcycling als solches natürlich nicht. Nur dass man wie die Caritas oder wie Modelabels, Möbelhäuser und Bastler einen ganz eigenen Geschäftszweig darauf gründen kann, ist so noch nicht vorgekommen in der Geschichte. Und dass ganze Generationen sich im Upcycling verwirklichen, das auch nicht.

 

Sandalen und Flip Flops aus alten Autoreifen hat die Not geboren. Ebenso geflochtene Handtaschen aus farbig isolierten Drähten, wie sie in Elektrokabeln beinhaltet sind, oder Aschenbecher aus Granathülsen gesägt. So manche Autokarosserie hat nach dem Ableben des Gefährts noch lange Jahre als Gartenlaube weiterexistiert, als untote Lieblingslimousine unter Trauerweiden. Das ist Anhänglichkeit, eine nicht rostende Liebe.

Upcycling 5: "Upcycling mit seiner Faszination des Untoten, der Lust an einer ganz anderen Verwendung als der ursprünglich gedachten, ist in seinem Ausmaß durchaus etwas Besonderes"

Hinter Upcycling steckte aber bislang fast immer eine Nützlichkeitserwägung. So ruht die Moselbrücke von Trier noch immer auf Pfeilern aus der Römerzeit – warum auch nicht. Das ist nützlich und sie sind dauerhaft. Aber noch keine Generation bisher hat auf ausgebauten Rolltreppen-Elementen geruht. Insofern ist modernes Upcycling mit seiner Faszination des Untoten, der Lust an einer ganz anderen Verwendung als der ursprünglich gedachten, in seinem Ausmaß durchaus etwas Besonderes, so noch nicht Dagewesenes. 

 

Die bisherigen Beiträge zum Thema Upcycling:

 

Upcycling 1: Statt Müll ein zweites Leben

Upcycling 2: Wie Alltagsprodukte zu Kunst werden

Upcycling 3: Land Art - Gestaltung der Erde zum Kunstwerk

Upcycling 4: GeomantikArt: - Wenn die Erde selbst upcycelt