Karnismus II – Von der Anonymität der Bockwurst

Majestätisch wiegen sich Palmen im Wind. Ihre Früchte glänzen rötlich, sind prall und fett. Sie hängen in dicken Paketen in den Wipfeln der Bäume, wie eine Ansammlung kleiner, strotzender Brüste. Nach der Ernte werden sie ausgequetscht. Das  gewonnene Öl landet in der Nahrungsmittelindustrie, wo es zu Kunstbutter verarbeitet wird. Palmölfrüchte sind die Mütter aller Margarinewürfel. Aber wenn das, was man aus ihnen gemacht hat, in glänzender Verpackung im Einkaufskorb liegt, ist nicht mehr zu erkennen, woher sie kamen und wer sie waren.

 

Mit vielen Lebensmitteln verhält es sich so. Ketchup hat außer der roten Farbe mit dem Erscheinungsbild einer Tomate auch nichts mehr gemein, wenn es mit einem Blubb aus der Flasche quillt. Weder Käse noch Brot erinnern in Konsistenz und Aussehen an glückliche Kühe oder endlose Weizen- und Roggenfelder. Normalerweise stört es uns auch kaum, dass wir von der Urform eines Nahrungsmittels auf unserem Teller nichts mehr erkennen. Damit können wir leben.

 

Bei Nahrungsmitteln wie Fleisch oder Wurst ist dies jedoch nach Ansicht von Gegnern einer gemischten Ernährung aus nichtfleischlichen und fleischlichen Lebensmitteln etwas anderes. So kritisiert die amerikanische Sozialpsychologin Melanie Joy nicht nur das Essen von Fleisch generell, sondern auch, dass Konsumenten sich gar nicht bewusst seien, dass sie Tiere äßen, wenn sie Fleisch verzehrten.

Karnismus – ein unsichtbares System?

Melanie Joy ist die Erfinderin des Begriffs „Karnismus“ 

http://www.wagnersausblick.de/2013/09/23/der-begriff-der-aus-dem-ekel-kam/. Karnismus sei ein böses System, das sich möglichst unsichtbar mache. Von den Medien werde dieses System auch noch bewusst gestützt, indem diese es unterließen, „über den gewalttätigen Umgang mit Nutztieren und die korrupten Praktiken der karnistischen Industrie“ zu berichten. (1)

 

Tierhaltung und Fleischindustrie würden sich regelrecht verstecken: „Der Hauptabwehrmechanismus des Systems ist Unsichtbarkeit […] Unsichtbarkeit ermöglicht es uns zum Beispiel, Rindfleisch zu verzehren, ohne dabei das Tier vor uns zu sehen, das wir essen. Sie verhüllt unsere Gedanken vor uns selbst. Unsichtbarkeit schirmt uns außerdem bequem von dem unangenehmen Vorgang ab, den das Aufziehen und Töten von Tieren zum Zweck unserer Nahrungsproduktion bedeutet.“ (2)

 

Wir sähen nicht das Tier vor uns, das wir essen. Wir würden in ein Schnitzel beißen, ohne an den Körper zu denken, von dem es stammt. Auch eine Bockwurst, die wir verdrücken, ist demnach für uns vollkommen anonym. Aber Melanie Joy ist es nun gelungen, dieses Fehlverhalten aufzudecken. Sie hat durch ihre Studien herausgefunden: „Nur weil wir die Tiere, die wir essen, nicht sehen, heißt das nicht, dass sie nicht existieren.“ (3)

Karnismus – eine Bockwurst ist unstrittig tierischen Ursprungs

Melanie Joy hat Recht, die Tiere existieren. Eine Bockwurst – im Schwäbischen auch als „Rote Wurst“ bezeichnet – ist unstrittig tierischen Ursprungs. Sie besteht aus Schweinefleisch, Schweinespeck und Gewürzen, oft mit einem kleinen Anteil an Rindfleisch, weil das die Bissfestigkeit erhöht. Bevor man sie brüht, wird die Wurst heiß geräuchert, was ihr die besondere Geschmacksnote und den warmen Farbton verleiht. Insoweit liegen Ausgangsmaterialien, Rezeptur und tierische Herkunft klar auf dem Tisch des Metzgers. Vielleicht ließe sich anhand der gekennzeichneten Fleischcharge auch der Schweinemastbetrieb feststellen, aus dessen Stall das Tier gekommen ist. Möglicherweise hatte es zu Lebzeiten sogar einen Namen oder doch eine Erkennungsmarke im Ohr.

 

Dennoch wird eine Bockwurst im Allgemeinen ohne Herkunftsnachweis verkauft und gegessen. Aber das ist bei den meisten Lebensmitteln so. Fleischlose Kost ist sogar meist noch schwerer zu identifizieren. Eine Margarinesorte, um beim eingangs angeführten Beispiel Kunstbutter zu bleiben, die von 1924 an in den Vereinigten Margarine-Werken Nürnberg hergestellt wurde, verkaufte sich bis in die 1970er Jahre mit dem Werbespruch „Und aufs Brot die frische Resi“. Damit war alles gesagt. Mehr sollte der Resi-Konsument vom Rezept seiner Kunstbutter gar nicht erst erfahren. Über die Inhaltsstoffe informierte man entsprechend wenig, außer dass sie aus pflanzlichen Ölen und Fetten bestand. Eingewickelt waren die Margarinewürfel in ein Papier, auf dem eine Art „Heidi“ in ein Stück Margarinebrot biss. Hätte man die Spur der Resi aber wirklich zurückverfolgen können, wäre man in den Wipfeln irgendwelcher namenloser Ölpalmen irgendwo auf der Welt gelangt.

 

Eine heute verbreitete Margarinesorte ist die „Lätta“ der Firma Unilever. Sie bezeichnet sich als „Halbfettmargarine“.  Halbfett – das klingt schlank, weshalb sie gern von jungen, figurbewussten Kundinnen gekauft wird.  Die Werbung zeigt Nacktszenen, in denen eine junge Frau im Bett von zwei Männern verwöhnt wird, daraufhin schnurstracks zum Kühlschrank eilt, ihn aufreißt und sich an eine Packung „Lätta Hoch 2“ schmiegt. (http://www.youtube.com/watch?v=Fbs7cj_1G3o) Der dazugehörige Spruch: „Eines Morgens werden Sie aufwachen und feststellen, wie frisch die neue Lätta schmeckt“.

Karnismus – die blutrote Farbe des Fleisches durch Beleuchtung verstärkt

Nein, da ist nichts mehr zu erkennen von den Brüstchen der Ölfrüchte hoch oben in den Palmenkronen. Lätta, soviel steht immerhin auf der Packung, enthält Wasser, pflanzliches Öl, pflanzliches Fett, Buttermilch, modifizierte Stärke, Speisesalz, Emulgatoren, Konservierungsstoff, Säuerungsmittel, Aroma, Vitamine (E, A, D) und Carotin zur Färbung. Aber ansonsten ist die Kunstbutter anonymer als jede Bockwurst. Den Baum, der die Ölfrüchte einmal getragen hat, aus denen der Rohstoff für ihre Herstellung stammt, würde man niemals finden.

 

Im Zeitalter der Supermärkte und Lebensmittelfabriken ist die Ware auf der Fleischtheke noch am ehrlichsten. Fleisch versteckt sich nicht und selbst den meisten Würsten sieht man es noch an, dass sie aus Fleisch gemacht sind. Fleischverpackungen sind durchsichtig, damit man erkennt was drin ist. Darauf wird Wert gelegt. Durch entsprechende Beleuchtung verstärkt der Handel sogar die rote Fleischfarbe, die Schnitzel, Wurst und Steak durch gute Durchblutung des tierischen Körpers bekamen, von dem sie abstammen. Da hat Melanie Joy recht: Auch wenn wir die Tiere, die wir essen, nicht mehr als Ganzes sehen, wissen wir doch, dass sie existieren und auch dass alles Fleisch von ihnen kommt.

Karnismus - als das Heilige Schlachtfest noch ein Datum war

Schlachten war in der guten alten Zeit ein festlicher Anlass. Weihnachten, Ostern, Pfingsten und das Heilige Schlachtfest verzeichneten bäuerliche Familien einst in ihren Kalendarien. Wenn die Sau zerlegt und gekocht war, lud man Freunde und Nachbarn ein zu Metzelsuppe oder Schlachteplatte. Nicht selten wurde angestoßen auf die Sau, auf das geschlachtete Tier, von dem das wohlschmeckende Schweinerne stammte.

 

Regelrechte Verehrung genossen Jagdtiere in grauer Vorzeit. Jäger schmückten ihre Höhlen mit Tierzeichnungen, die sie in den Fels ritzten und sogar kolorierten. Die ersten Kunstwerke entstanden so durch Wertschätzung für jene Mitlebewesen, die das Fleisch für die menschliche Nahrung liefern. Noch heute stehen wir bewundernd vor den Felszeichnungen unserer jägerischen Urahnen. Und vor den kunstvollen Figuren, die sie aus Elfenbein schnitzten. Neben üppigen Frauenleibern waren dies vor allem Tierkörper: Mammut, Pferd, Löwe, Bär und Nashorn.

Karnismus – wenn Jäger Beutetiere um Verzeihung bitten

In seinem Buch „Eiszeitjäger auf der Schwäbischen Alb“ schildert Jürgen Werner, wie nach einem Jagderfolg Männer sich über ein erlegtes Wildpferd beugen und dankbar sein Fell streicheln. Das Tier „hatte sein Leben für ihre Familien gegeben“, heißt es im Text. (4) Der Gymnasiallehrer aus Bad Urach hat viele Untersuchungen über jägerische Gemeinschaften ausgewertet und diese Forschungen seinen Schilderungen zugrunde gelegt.  In einer Szene beschreibt er, wie der eiszeitliche Jäger mit dem von ihm erlegten sterbenden Tier leidet und seinen Schmerz mitfühlen kann. „Er dankte dem Tier für sein Fleisch. Er bat um Verzeihung dafür, dass die Jäger seinem kurzen Leben ein gewaltsames Ende gemacht hatten.“ (5)

 

Diese innige Verbindung zum Tier, das wir essen, ist unserer Milliarden zählenden Menschenpopulation, mit der wir die Erde bevölkern, nahezu vollkommen abhandengekommen. Wir modernen Menschen kommen aber nicht nur wenig mit Schlachttieren in Berührung, sondern wir haben überhaupt kaum jemals Zugang zu den Produktionsstätten der Güter, die wir kaufen oder von denen wir leben. Wer sieht schon Webereien und Fabrikationshallen von innen, in denen unsere Textilien hergestellt werden? Wer bekommt mit, wo und wie unsere iPhones produziert werden oder unsere Autos und Möbel entstehen? Auch Gurkenfelder und Sojaplantagen, die Erntegebiete von Yamswurzeln oder die der Ölpalmen sehen und betreten wohl die wenigsten von uns jemals. Dasselbe gilt für Viehställe und Schlachtereien.

Karnismus – wo sind denn die Tiere?

Die allermeisten modernen Produktionen laufen nicht öffentlich ab. Dass es bei unserem Nahrungsmittel Fleisch genauso ist, stößt indes bei der Sozialpsychologin Melanie Joy von der University of Massachusetts in Boston auf Kritik: „Wie viele von den zehn Milliarden Tieren, die in den letzten zwölf Monaten aufgezogen, transportiert und geschlachtet worden sind, hat ein US-Bürger wohl gesehen? Wieviele solcher Tiere haben Sie selbst im letzten Jahr gesehen? […] Obwohl die meisten von uns täglich Fleisch essen, macht sich kaum jemand auch nur einen Moment Gedanken darüber, wie seltsam es ist, dass wir durch unser ganzes Leben gehen können, ohne jemals den Tieren zu begegnen, von denen wir uns ernähren. Wo sind sie?“ (6)

 

Ja, wo sind die? Vermutlich ist es in den USA ähnlich wie bei uns: Die Tiere stehen in Ställen, außerhalb der menschlichen Ballungsgebiete. Denn Tiere machen Lärm, ihre Hinterlassenschaften riechen streng und große Mastbetriebe und ihre Vorratslager brauchen viel Raum. Dafür ist in Städten kaum Platz. Mästereien müssen sogar gebührenden Abstand zu Wohngebieten halten, damit Menschen nicht durch Geruch und Krach belästigt werden. Dazu sind die Betriebe durch gesetzliche Auflagen verpflichtet. Jahr für Jahr werden  Prozesse ausgetragen, weil Menschen sich durch Tierhaltung belästigt fühlen und wenn es nur der Hahn auf dem Hühnerhof ist, der zu laut kräht. 

 

Melanie Joy gibt sich damit nicht zufrieden. Sie geht davon aus, dass Viehställe, Tiere und deren Haltung zumindest in den USA regelrecht versteckt werden. Man bekäme vielleicht irgendwo einmal maximal 50 Rinder zu Gesicht, die auf einer Weide stehen. Mehr nicht. Im Fernsehen, in Zeitungen, Zeitschriften oder Filmen würden Tiere, die zur Ernährung dienen sogar bewusst nicht gezeigt. (7)

 

„Die Betriebe, die den Großteil des Fleisches produzieren, das auf unseren Tellern landet, sind im Wesentlichen unsichtbar“, heißt es in ihrem Buch über den Karnismus, das im Frühjahr auch auf Deutsch erschienen ist. Joy: „Wir sehen sie nicht. Wir sehen sie nicht, weil sie sich in abgelegenen Gegenden befinden, in die es kaum jemanden von uns verschlägt“, schreibt sie.  (8)

Karnismmus – wenn sich Fleischproduzenten im Fernsehen vorstellen

Aber man sieht sie doch. Bis zum Frühjahr dieses Jahres warb der Fernsehmoderator Jörg Pilawa für die Produkte des Fleisch- und Wurstproduzenten „Rügenwalder Mühle“, gerade so, als wollte er die Medienschelte der US-Professorin Melanie Joy Lügen strafen. Denn in den Rügenwalder Spots werden auch die Schlachttiere gezeigt.

 

Inzwischen stellen sich die Mitarbeiter auf den Produkten und in der Fernsehwerbung sogar selbst vor und erläutern, welche Rolle sie in dem Unternehmen spielen. („Moin, wir sind die von der Rügenwalder Mühle“). Stolz präsentieren die Rügenwalder in ihren TV-Spots die gesunden Tiere, die qualitativ hochwertiges Fleisch liefern, aus denen dann ihre Produkte hergestellt werden: http://www.ruegenwalder.de/start/.

Karnismus – die armen Schweine auf den Gurkenfeldern

In den Gemüsefarmen in Holland, Belgien oder Spanien wird mit riesenhaften  Monstermaschinen auf den Feldern geerntet und gerodet. Bei YouTube gibt es eindrucksvolle Videos dazu. https://www.google.de/#q=you+tube+Gem%C3%BCse+Erntemaschinen Sehr grün sieht das alles nicht aus. Aber hier wird ein erheblicher Teil des Gemüses produziert, das in den Ländern der EU auf den Tisch kommt. Menschen sind in die Maschinen integriert, müssen für wenig Geld Rüben, Gurken, Kartoffeln oder Salat verlesen, manche mit dem Bauch auf der Maschine vor Förderbändern liegend: Menschen als Objekte des technischen Ablaufs. Diese Saisonarbeiter sind sichtbar arme Schweine, nicht minder als die Akkord-Zerleger und -Enthäuter der Tiere in den Schlachthöfen. Viele von ihnen kommen aus Billiglohnländern des ehemaligen Ostblocks, wie die Hopfenpflücker und die Spargelstecher. Alle sind sie irgendwie anonym wie das Erntegut, das sie einbringen.

Karnismus – warum kennt man heute kein Schwein?

Hausschweine waren einmal Individuen. Mensch und Tier kannten sich von der Ferkelgeburt bis dass das Tier als Braten auf dem Teller lag. Der Salat im Hausgarten oder auf der Fensterbank ist ebenfalls Individuum. Man kennt sich von der Auspflanzung bis zur Ernte.

 

Doch die meisten der mehr als sieben Milliarden Menschen, die den Erdball bewohnen, kennen weder einen Salat persönlich, noch ein Tier, das sie essen. Produktion für die vielen kann nicht mehr im Hausgarten oder im Schweinekoben stattfinden. Produktion ist anonym geworden, nicht nur für Industriegüter sondern auch für Lebensmittel, auch hierfür gibt es längst eine Industrie, egal ob Palmöl gewonnen wird oder Tofu, ob Wurst produziert wird oder Steak.

Karnismus – das Fleisch der Vegetaristen und Veganer ist höchst anonym

Vegetarismus und Veganismus ändern daran nichts. Bockwürste sind geradezu urwüchsige und authentische Persönlichkeiten aus Fleisch und Blut gegenüber den Veggi-Würstchen der reinen Pflanzenesser. Sogenannte Bauernknacker aus dem VeganWonderland, einem wichtigen Anbieter in der Szene, enthalten: Wasser, Weizeneiweiß, Sonnenblumenöl, Hefeextrakt, Gewürze, Meersalz, Weizenstärke, Verdickungsmittel Johannisbrotkernmehl. Und das Veggie Rinderfilet besteht aus Sojaeiweiß, Shiitake-Pilzen, Wasser, Sojaöl, Sojasauce, Stärke, Zucker, Salz und Gewürzen. - Niemand hat je in der Urform gesehen, was er da an Stoffen aufisst.

Weiterführende Literatur:

Karnismus II – Anmerkungen im Text:

1 Joy, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Karnismus - eine Einführung, Münster 2013, S. 118.

2 Joy, Melanie, a. a. O. S. 22 f.

3 Joy, Melanie, a. a. O. S. 131

4 Werner, Jürgen: Eiszeitjäger auf der Schwäbischen Alb, Bad Schussenried 2008, S. 16.

5 Werner, Jürgen, a. a. O. S. 86.

6 Joy, Melanie, a. a. O. S. 41.

7 Joy, Melanie, a. a. O. S. 41.

8 Joy, Melanie, a. a. O. S. 43.

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