Karnismus - der Begriff, der aus dem Ekel kam

Im Jahr 1989 aß die Amerikanerin Melanie Joy nach eigenen Angaben ihren letzten Hamburger. Sie war damals 23 Jahre alt und Soziologiestudentin. Nach dem Verzehr des Fleischbrötchens sei ihr schlecht geworden und sie hätte mit heftigen Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Seither verspüre sie einen „Ekel vor Fleisch“. Sie habe daher ihre Ernährungsgewohnheiten geändert, sei erst Vegetarierin und einige Jahre später sogar eingefleischte Veganerin geworden.

 

Inzwischen ist Melanie Joy 47, hat promoviert und arbeitet als Professorin für Psychologie und Soziologie an der University of Massachusetts in Boston. Der Ekel, der sie vor einem Vierteljahrhundert nach ihrem letzten Hamburger überfallen hatte, ließ sie nie mehr los. Sie suchte nach einem Begriff, mit dem sie den erworbenen Widerwillen gegenüber Fleisch Ausdruck verleihen konnte und kam auf „Carnism“. Ins Deutsche übertragen „Karnismus“. Frei übersetzt bedeutet das „Fleischismus“. Der Begriff soll den Gegensatz zum „Vegetarismus“ herstellen. Abgeleitet ist das Wort, das die Amerikanerin bekannt gemacht hat nicht von einem englischen Ausdruck für Fleisch, wie meat oder flesh. Sondern  den Karnismus hat Melanie Joy - vielleicht des besseren Klanges wegen - aus dem Lateinischen entlehnt, wo carnis das Fleisch bedeutet. 

Karnismus – eine Gewaltideologie seit Jahrmillionen?

Mit Fleischismus oder Karnismus kennzeichnet Melanie Joy etwas, was sie als ein „System“ betrachtet, ein System des Bösen. Dieser Sichtweise hat die Sozialpsychologin auch ihre Doktorarbeit gewidmet und sie hat ein Buch darüber veröffentlicht. (Siehe unten).

 

Karnismus bedeute nicht einfach eine Essgewohnheit, die vor vielen Jahrtausenden oder gar Jahrmillionen  entstanden, und die bei vielen Säugetieren und dem Menschen verbreitet ist, sondern Karnismus sei ein „unsichtbares Glaubenssystem“, eine „gewalttätige Ideologie“, ein System aus Überzeugungen, das Menschen von Kind auf dazu erziehe, bestimmte Tiere zu töten und zu essen. (1)

 

Alle Gesellschaften, in denen Fleisch seit grauer Vorzeit gegessen werde, unterlägen einer solchen „Gewaltideologie“, denn Fleisch könne „nicht ohne Töten hergestellt werden“, so Joy. Die Gesetze dieser Gesellschaften, ihre Normen, sogar ihr Denken und Handeln seien von dieser Gewaltideologie, dem „Fleischismus“ respektive „Karnismus“ geprägt. 

 

Fleisch essen entspringe einer Ideologie der Unterdrückung und sei damit allen anderen dominanten und unterdrückenden Systemen wie Rassismus, Sexismus, Faschismus gleichzusetzen. Wer Tiere esse, stehe in einer Linie mit den schlimmsten Gewaltsystemen auf der Welt. Der Kampf gegen das Fleischessen, also der Vegetarismus und vor allem der Veganismus, sei daher eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. „Joy sieht in der veganen Bewegung eine Weiterführung bisheriger sozialer Bewegungen wie die Schwarzenbewegung in Amerika oder die Frauen- und die Schwulenbewegung international.“ (2)

 

Ein verdorbener Hamburger hat Melanie Joy nicht nur das Fleischessen verleidet, sondern sie zu diesen Ansichten gebracht. Vordem hatte sie nach eigenem Bekunden durchaus gerne Tier gegessen. Joy: „Ich selbst habe mein halbes Leben lang Fleisch gegessen“ (3). Andererseits sagt sie im Nachhinein aber auch, sie sei vermutlich schon immer eine „Vegetarierin in einem fleischessenden Körper“ gewesen. (4) In der Veggie-Bewegung Amerikas und Europas wird sie heute als eine Art Jeanne d’Arc, eine heilige Johanna gegen die Schlachthöfe gesehen. Ihre Lehre vom Karnismus gilt als das neue Grundgesetz des Vegetarismus und des Veganismus. 

Karnismus – der Ekel gegen Fleisch hat mikrobielle Ursachen

Melanie Joys Organismus wurde in der Studentenzeit durch toxische Substanzen geschädigt, die durch die Tätigkeit von Mikroben erzeugt worden waren: Bakterien hatten das saftige  Fleisch, den Salat, das Gemüse und die Soßen auf dem Hamburger zersetzt und dabei Giftstoffe produziert. Durch den Verzehr des bakteriell verseuchten Fleischbrötchens war schließlich auch der Körper von Melanie Joy infiziert und vergiftet worden, so dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

 

Laut Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gehören zu den wichtigsten Erregern für solche Fleischvergiftungen „Salmonellen, Staphylokokken, EHEC“ usw.  „Sie verursachen die klassischen Symptome der Lebensmittelvergiftung, wie Übelkeit, Durchfall und Erbrechen“, heißt es dazu auf der Netzseite des Instituts. (5)  - In den USA hat sich übrigens die Erkrankungsrate mit Salmonellen in den letzten 25 Jahren verdoppelt. In Ländern wie Deutschland und der Schweiz ist die Zahl der Infektionsfälle seit den 90er Jahren rückläufig. (6)

 

Salmonellen sind stäbchenförmige Bakterien, die der Familie der Enterobakterien angehören. Die Gattung bringt zwei unterschiedliche  Arten hervor: Salmonella bongori und Salmonella enterica. Die für den Menschen gefährlichen Salmonellen sind solche der Spezies Salmonella enterica. Zu ihnen gehört z.B. auch das spezielle Bakterium Salmonella typhi, das den Typhus hervorruft. (7)

 

Aber auch ohne Typhusinfektionen können Salmonellen der Art enterica verheerende Krankheiten auslösen. Sie verursachen u.a. Schleimhautentzündungen im Darm (Enterokolits). Das sind starke Entzündungsreaktionen mit Krämpfen, Schmerzen und Durchfall, häufig auch Erbrechen und Übelkeit – Krankheitssymptome, wie Melanie Joy sie nach eigenem Bekunden erlitten hat.

 

Es „erkranken jährlich weltweit etwa 200 Millionen bis 1,3 Milliarden Menschen an nichttyphöser Salmonellose, wobei bis zu 3 Millionen Menschen jedes Jahr daran versterben.“ (8)

 

„Damit eine infektiöse Enteritis entstehen kann, müssen bei ansonsten gesunden erwachsenen Menschen etwa 50.000 Keime über kontaminierte Nahrung oder Wasser aufgenommen werden. Bei Personen mit verminderter Abwehrschwäche wie Kleinkindern oder alten Menschen reichen unter Umständen bereits etwa 100 Bakterien für eine Erkrankung aus.“ (9)

Karnismus – spezielle Salmonellengene erzeugen Gifte

Die Salmonellen, die dem Menschen besonders gefährlich werden, verfügen über bestimmte Gene. Ohne diese sind sie oft harmlos und leben  im menschlichen Darm ohne auffällig zu werden, auch in dem von Haustieren und in Hühnereiern. Ob die meist risikolosen Salmonellen „virulent“, d. h. besonders aktiv und gefährlich werden, hängt davon ab, „ob der Salmonellen-Stamm ein genetisches Element, das Salmonella Plasmid für Virulenz (spv), trägt. Innerhalb dieses Elements kommt wiederum dem Gen spvB eine Schlüsselfunktion zu. Fehlt das spvB-Gen oder ist es inaktiviert, dann können sich Salmonellen wesentlich schlechter in menschlichen Zellen vermehren.“ Diese Wirkungsweise haben Professor Dr. Friedrich Nolte und Privatdozent Dr. Friedrich Haag aus dem Institut für Immunologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf erforscht. Die Ergebnisse wurden 2000 in der Fachzeitschrift Molecular Microbiology publiziert. (10)

 

Die genannten B-Gene sind für bestimmte Enzyme verantwortlich, die bei einer Infektion mit Salmonellen in einem komplizierten Zusammenspiel Eiweißverbindungen zerstören. Fleisch „verdirbt“ und infiziert mit den von den Salmonellen dabei produzierten krankmachenden Stoffen – es sind lebensgefährliche Gifte - den menschlichen Körper.

 

Dieser Vorgang war es, der bei Melanie Joy im Jahr 1989 das Ekelgefühl hervorgerufen hat. Jene Salmonellen, die ihren Hamburger befallen hatten, lösten mit ihren Giftstoffen den Ekel aus. Nicht das Fleisch. Fleisch ist ja nicht ekelerregend. Frau Joy hat bis zum 23. Lebensjahr viele nicht verdorbene Hamburger gegessen, wie sie erzählt hat. Erst die Toxine der Salmonellen auf ihrem letzten Burger haben ihr dann das damit befallene Fleisch und schließlich jegliches Fleisch verleidet.

Karnismus - was Ekel erregt ist angelernt

Ekelerregung dient dem Schutz vor Verdorbenem und Ungenießbarem. So gibt es eine natürliche Abneigung zum Beispiel gegen Fäkalien, gegen Übelriechendes überhaupt, gegen Schleimiges und Verfaultes. Aber in vielen Fällen muss eine Ekelerregung auch regelrecht erlernt werden, durch die Normen, die eine Kultur oder Tradition setzt, oder durch Krankheiten in einer Art Lernprozess.

 

In verschiedenen Kulturen gelten höchst unterschiedliche Dinge als ekelhaft. Bei den Chinesen isst man Affenhirn und verfaulte Eier, was Mitteleuropäern Widerwillen bereitet. Afrikaner verleiben sich Insekten, Würmer und Larven ein. Den meisten Europäern und Amerikanern wird es schon beim Drandenken übel. Inuit essen traniges Walfleisch, was einem an Schweineschinken gewohnten Franken, Schwaben oder Sachsen den Magen umdreht. Manche europäischen Metzger alter Schule trinken schon mal frisches Stierblut und in Frankreich werden Kuheuter und Hoden von Bullen verspeist. Menschen aus anderen Kulturkreisen würden sich vielleicht übergeben. 

 

Melanie Joy hat den Ekel und die Abscheu vor den Toxinen der Salmonellen und deren krankmachende Wirkung auf das durch mangelnde Hygiene verdorbene Fleisch – auf Fleisch generell - übertragen, das in unseren westlichen Gesellschaften und auch in den anderen Gesellschaften dieser Erde selbst keinen Ekel hervorruft . So ist das sozialpsychologische Denkgebäude vom Karnismus entstanden.  Es ist ein Begriff, der aus dem von Salmonellen verursachten Ekel kam. Das Fleisch kann letztlich gar nichts dafür.

Das Buch von Melalanie Joy

trägt im Original den Titel „Why We Love Dogs, Eat Pigs, And Wear Cows”. Auf Deutsch lautet der Titel: „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Karnismus - eine Einführung“. Erschienen im Verlag compassion media, 230 S., 20 Euro, ISBN 13: 978-3981462173.

Karnismus - Anmerkungen im Text

1 Joy, Melanie: Wir folgen unsichtbarem Glaubenssystem, Interview mit Der Standard v. 22. März 2012. Im Netz (11.09.2013): http://derstandard.at/1331207287200/Wir-folgen-unsichtbarem-Glaubenssystem. 

2 Pfeiler, Tamara: Die Psychologie des Tiere Essens – Karnismus. Ab heute vegan. Im Netz (11.09.2013): http://www.deutschlandistvegan.de/karnismus/.

3 Spiegel online vom 24.08.2013: Karnismus-Forscherin Joy: Fleisch ist ein Mythos,. Im Netz (20.09.2013): http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/sozialpsychologin-melanie-joy-warum-essen-menschen-fleisch-a-909292.html.

4 Runge, Indra: Karnismus vs. Veganismus, Reformhaus v. 12.06.2013. Im Netz (11.09.2013): http://www.reformhaus.de/ernaehrungstipps/ernaehrungsformen/879-karnismus-vs-veganismus.html.

5 Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) 2005: Fragen und Antworten zu verdorbenem Fleisch. Im Netz (10.09.2013): http://www.bfr.bund.de/de/fragen_und_antworten_zu_verdorbenem_fleisch-7042.html.

6 Wikipedia: Salmonellose. Im Netz (10.09.2013): http://de.wikipedia.org/wiki/Salmonellose.

7 Völk, Helmut 2011: Etablierung eines Infektionsmodells in Säugerzellen zur Charakterisierung des Pathogenitätsfaktors SpvB von Salmonella enterica, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der

Medizin, S. 2. Im Netz (10.09.2013): http://vts.uni-ulm.de/docs/2012/7998/vts_7998_11611.pdf.

8 Völk, Helmut a. a. O. S. 3.

9 Völk, Helmut a. a. O. S. 3f

10 Schafft, Marion: Warum machen Salmonellen krank? UKE-Arbeitsgruppe fand einen Wirkmechanismus der weit verbreiteten Bakterien. Informationsdienst Wissenschaft v. 05.12.2000. Im Netz (11.09.2013):  http://idw-online.de/de/news27914.

11Otto, Thomas: Fünf Sterne auf Bestellung – gefälschte Buchrezensionen bei Amazon, Deutschlandradio Kultur am 15.07.2013. Im Netz (14.09.2013): http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ewelten/2178070/.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0