„Nichts war, nichts wird sein, alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.“
Hermann Hesse, Siddhartha
„Alles geschieht jetzt oder nicht.“
HGW
I Megalopolis
Es ist die Stunde, da alle Energien eines Tages im Schoß der Stadt zusammenströmen. Aus Montagehallen, Konsumtempeln und Büros drängen jetzt unzählige menschliche Organismen in kurz anhaltende, dröhnende, kreischende, rasend schnell dahinschießende Transportsysteme. Ziel sind ihre heimischen Betten und Tische. Dort ruhen sie und regenerieren, bis sich anderntags erneut ihr Dasein erfüllt.
Im Zentrum warten hunderttausend zuckende Schlitze auf die Einführung der Geldkarten. Wie gespendetes Blut aus den Speichern der Individuen halten sie das System am Leben.
Die Menschen in den Straßen machen auffallende, hüpfende Schritte, immerfort bemüht, Hindernissen auszuweichen. Ihre Köpfe sind steil aufgestellt, hinter die Schultern zurückgerissen, in typischer Panikhaltung, wie man sie von ängstlichen Lämmern kennt, die aus der erdrückenden Masse einer Herde nach ihrer Mutter Ausschau halten oder nach einem herannahenden Feind. Die Menschen in den Straßen sind fliehende Lämmer.
Aus den grauen Betonkörpern der großen Bauwerke, die so nackt sind, wie enthäutet, so dass man ihnen ein Fell übergezogen hat, aus bunten Lichterlocken, fletschen unsichtbar die Zähne des Bösen. Über die Glasfronten der Einkaufstempel irrlichtert es lila schillernd. Schreiend grelle Flammen aus Neid und Habgier züngeln nach jedem Rest von Würde.
Aus großer Höhe nimmt man die Megalopolis wahr als einen braunroten Fleck, zerfurcht, dünstend, gärend und dampfend. Aus geringer Entfernung sieht man, dass massenhaft verschiedenfarbige Wesen aus der Anhäufung quellen, in Behausungen verschwinden während andernorts neue auftauchen, die sich ebenfalls unaufhörlich fortbewegen. Es wimmelt.
Kranker, stechender Atem von fahlgelber Färbung hängt über verätzten Dächern. Und drunten in den Schluchten der Straßen wechseln hastig die Farben, verwehen schnell Gerüche und Töne, kommen neue hervor, verwest ohne Unterbrechung, was der Moloch gebiert.
Die heiße Mitte der Stadt ist in geiles Rot getaucht. Doch gleich dahinter, wo über dunkle Schleusen der tägliche Bedarf hereingepumpt und alles Überflüssige hinausgepresst wird, wo beißender Gestank und staubender, krachender Lärm die Luft erfüllen, breitet sich hingeduckt die Kampfbahn des nachtschwarzen Hasses aus, mit ihren Ausgeburten und Verstoßenen. Sie warten auf ihre Stunde und haben Wut.
Auf den Bahnschienen liegt ein lichtrosa Bündel, umstellt von blauen, zuckenden Lichtern und durchbohrt von brandgelben Blicken aus hundertfachen Augen, die gierig das Unheil aufsaugen.
Tief ins Herz der City ist die Kathedrale gerammt, ragt drohend daraus hervor und gemahnt erschreckend an den allgegenwärtigen lieben Gott.
Zwischen mächtig aufragenden nackten Bürotürmen und den stählernen Schenkeln der Brücken bricht die Sonne ihre Bahn ab und taucht hinter einem groben Wolkenvorhang aus blau-gestreiften Orangentönen lautlos unter. Der Druck der Nacht entlädt sich schließlich in einem gewaltigen Orgasmus. Das Zentrum zuckt, ejakuliert, verdaut, kollabiert bis der Morgen heraufdämmert.