Nordische Götter: Einheitliche Sprache und Religion in indogermanischer Zeit?

Den altnordischen Göttern Odin, Thor und Freyja ist die Ausstellung skandinavischer Kultplätze gewidmet, die im Archäologischen Museum in Frankfurt gezeigt wird. Was bedeutete es für den Norden, als die christlichen Missionare kamen? Wie war es vorher – was sind die Wurzeln der nordischen Mythen? Ein Gespräch dazu mit Prof. Dr. Egon Wamers, leitender Direktor des Museums. 

 

Odin
Odin-Amulett aus Tissø/DNK. Foto Archäologisches Institut.

Wagners Ausblick: Herr Prof. Wamers, Odin, Thor und Freyja, denen Sie Ihre große Ausstellung in Frankfurt widmen, sind die  bekanntesten Göttergestalten des Nordens. Weiß man eigentlich, ob sie ausschließlich nordischen Ursprungs sind oder ob diese Gottheiten vielleicht noch älteren Mythen entstammen, die einst in den Norden eingewandert sind?   

 

Prof. Egon Wamers: Odin/Wotan, Thor/Donar und die geschwisterliche Fruchtbarkeitsgottheit Freyr-Freyja waren gemeingermanische Gottheiten, die nicht nur im Norden, sondern auch in England und auf dem Kontinent verehrt wurden. Ihr Alter ist schwer zu beurteilen; sie dürften mindestens bis zur Zeitenwende zurückreichen. Seit der Übertragung der römischen  Wochentagsnamen in die germanischen Sprachen im 4. Jahrhundert sind sie gut belegt. Wieweit diese Gottheiten namentlich bis in indogermanische Zeit zurückreichen, ist umstritten. Zumindest viele ihrer Funktionen findet man in griechischen, römischen und keltischen Göttern wieder. In der interpretatio romana galten sie als Entsprechungen römischer Götter. Zahlreiche ikonographische Hinweise zeigen aber, dass manche Eigenschaften von den römischen auf die nordischen Götter übertragen wurden.

 

Namen nordischer Gottheiten haben auch im Sanskrit Bedeutung

Thor
Thorshammer-Amulett aus Tissø/DNK. Foto: Archäologisches Museum.

WA: Die Namensformen weiterer nordischer Gottheiten, wie etwa Thyr bzw. Tiwaz oder Pulaz bzw. Baldur, haben  auch im indischen Sanskrit Bedeutung. Legt das Vermutungen zur fernen Herkunft dieser Gottheiten nahe?

 

Wamers: Ein hohes indogermanisches Alter germanischer Götter ist nur für Týr (aus *Tiwaz) definitiv belegt (altind. Dyaus, griech. Zeus, lat. Juppiter aus Diēspiter = Himmelsvater). Dies legt nahe, dass es „in indogermanischer Zeit“, also eine uralte nicht nur einheitliche Sprache, sondern auch – zumindest partielle – einheitliche Religion gab.

 

WA: Es gibt Hinweise darauf, dass infolge der großen Schwarzmeerflut vor etwa 7600 Jahren die Menschen aus dem Katastrophengebiet in alle Himmelsrichtungen geflohen sind. Ihr indogermanisches  Erbe soll sich u. a. in Indien und im Iran nachweisen lassen. Könnte es auch den Norden beeinflusst und evtl. sogar in der isländischen Edda Spuren hinterlassen haben? 

 

Wamers: Von einer „Schwarzmeerflut“ ist mir nichts bekannt. Ich bin auch nicht davon überzeugt, dass eventuelle Jahrtausende zurückliegende klimatologische Ereignisse sich in den Liedern der mittelalterlichen Edda niedergeschlagen haben. In den unterschiedlichen Götter- und Heldenliedern und Spruchdichtungen lassen sich aber zahlreiche Einflüsse aus antiker, christlicher und vielleicht auch islamischer Dichtung sowie Wandermotive nachweisen. 

 

Wamers/Draghi
Prof. Dr. Egon Wamers, leitender Direktor des Archäologischen Museums Frankfurt bei Ausstellungseröffnung zur Geschichte unserer Währung. Neben ihm EZB-Präsident Mario Draghi, im Hintergrund die Sagengestalt der schönen Europa, Foto: Wamers.

WA: Katastrophenmythen vom Fimbulwinter bis zur altnordischen, wikingerzeitlichen Endzeitmythologie der Ragnarök, dem Untergang der Götter, sind wohl rein nordischen Ursprungs?

 

Wamers: Eschatologische Erzählungen gehören zu zahlreichen Mythologien. Der schreckliche Fimbulwinter hingegen, der nach der Snorra Edda (Gylfaginning 50) drei Winter andauerte, könnte der von antiken Autoren für 536/537 überlieferte „Staubschleier“ gewesen sein, der vermutlich von einem Vulkanausbruch ausgelöst wurde und der Nordhalbkugel eine weiträumige und mehrjährige Himmelsverdunklung bescherte mit katastrophalen Auswirkungen auf Natur, Klima und Ernten in den Folgejahren. Man vermutet heute, dass dieser „Staubschleier“ auch zu tiefgreifenden rituellen und sozialen Änderungen im Norden führte, und man hat das Aufkommen der Goldbrakteaten-Amulette mit ihm in Verbindung gebracht. 

 

Die heilige Zahl neun in nordischen Kulten

WA: Sie schreiben im Ausstellungskatalog über die heilige Zahl neun u. a. sie sei ein kosmologisch-kreatürlicher Zahlenwert und spiele auch im Kult des Alten Nordens eine große Rolle – wo noch? 

 

Wamers: Insbesondere bei der Zahl der Opfertiere taucht die Neun immer wieder auf, sowohl in nordischen Selbstzeugnissen wie auf dem Runenstein von Stentoften aus der Zeit um 600 n.Chr. wie auch bei christlichen Autoren wie Thietmar von Merseburg (um 1018) oder Adam von Bremen (um 1075). Aus wohl zuverlässigen Quellen hatten sie Kenntnis über die Praktiken bei den großen Opferfesten an den Königssitzen von Lejre auf Seeland und Uppsala in Schweden erhalten. Darüber hinaus ist die Neun in den Mythen der Liederedda öfters präsent, ebenso wie in den mythologischen Bildzeugnissen.

 

Zwischen Niflhel und Walhal

WA: Wenn die Wikinger und auch andere Germanenvölker sich vorstellten, es seien neun Welten bis Niflhel, dem Ort hinter dem Totenreich, hat das ja schon fast Anklänge an moderne kosmologische Vorstellungen vom Multiversum. War da die christliche Vorstellung von einem einzigen jenseitigen Gott in einem singulären Himmel nicht geradezu ein Rückschritt? 

 

Wamers: Niflhel war ein absolut finsterer Ort der Schatten, vergleichbar dem griechischen Hades – also kaum ein Wunschort. Walhal hingegen, das paradiesische Kriegerjenseits der Odinsreligion, dürfte ein späteres Konzept sein, vielleicht angeregt von christlichen und/oder islamischen Jenseitsvorstellungen. Ob der christliche Monotheismus ein Rückschritt war, will ich nicht beurteilen. Ich erinnere aber an Peter Scholl-Latours Wort, bezogen auf den praktizierten Hinduismus, vom „Pesthauch des Polytheismus“. 

 

Freyja-Figürchen. Foto Archäologisches Museum.
Freyja-Figürchen. Foto Archäologisches Museum.

WA: Der Norden wurde durch die gewaltsame Christianisierung seiner eigenen lokalen, bodenständigen Götter beraubt. An ihrer Stelle wurde ein Gott mit globalem Anspruch installiert, der seither für ein dualistisches Weltbild steht – wir da unten, er da oben. Und der Anspruch des christlichen Gottes ist ja absolut. Der Glaube an ihn und die Forderung des unbedingten Gehorsams um den Preis des ansonsten drohenden Fegefeuers machte ihn zum brachialen Herrschaftsinstrument. Kann man das rückschauend als Segen betrachten oder muss man da nicht zweifeln? 

 

Wamers: Eine gewaltsame Christianisierung des Nordens von insularer oder kontinentaler Seite aus kann ich für das 9./11. Jahrhundert nicht erkennen. Vielmehr zeigen sich die Missionare als engagierte Kämpfer gegen Sklavenhalterei und Sklavenhandel und gegen frauenverachtende Polygamie. Für die Frauen in Skandinavien scheint das Christentum sehr attraktiv gewesen zu sein. Im altnordischen Heidentum hingegen waren neben den zahlreichen Tieropfern auch Menschenopfer gang und gäbe: Das zeigen uns zahlreiche neue archäologische Befunde – worüber die Mythen völlig schweigen. Und die Berichte des Augenzeugen Ibn Fadlan über die blutig-abscheulichen Bestattungspraktiken bei den Warägern an der Wolga im 10. Jahrhundert sind auch nicht gerade einladend. Deshalb darf man dem Christentum durchaus auch zivilisatorische Leistungen zurechnen. 

Bestattung im Boot seit dem Neolithikum

WA: Schon ein paar Generationen vor Beginn der eigentlichen Wikingerzeit hat sich u. a. in Schweden, in Vendel,  Valsgärde  etc., eine neue Militäraristokratie gebildet. Sie hat in ihren Totenkulten auf altskandinavische Traditionen und religiöse Vorstellungen zurückgegriffen und sich aufwendig in Booten bestatten lassen. Woher kommt diese veränderte Bestattungskultur. Sie haben die Vermutung geäußert, das könnte Ausdruck einer „überseeischen“ Herkunft gewesen sein. Wie ist das gemeint?

 

Wamers: Die Bestattung im Boot geht in Skandinavien bis in das Neolithikum (2. Jahrtausend v.Chr.) zurück, wird aber vor allem in der Merowinger- und Wikingerzeit häufig praktiziert. Es gibt gute Gründe, dahinter einen Fruchtbarkeits-Regenerationskult zu sehen, denn die nordischen Fruchtbarkeitsgötter Njørðr und Freyr waren eng mit der Schifffahrt verbunden. So war eines von Freyrs Attributen das Zauberschiff Skíðblaðnir.

Was die „Warlords“ in den reichen Bootgräbern von Mittelschweden betrifft, so vermute ich, dass sie zuvor im Südosten des Kontinents aktiv gewesen waren. 

 

WA: Diese von Ihnen genannte Militäraristokratie mit ihren Panzerreitern fußte auf Vorbildern der Römer und deren Kataphrakten und Clibanariern, die ursprünglich aber von Persern und Samaten etc. stammten. Gibt es eine Vorstellung davon, wie die Männer des Nordens seinerzeit mit diesen Kampfesweisen und Bewaffnungen in Berührung gekommen sind, so dass sie ihnen sogar zum Vorbild wurden? 

 

Wamers: Seit der Zeitenwende bis in das 11. Jahrhundert hinein ziehen zahllose Nordleute nach Süden – zumeist als Reisläufer (Söldner), die u.a. als Einheiten im römischen und später fränkischen Heer kämpfen und in den Leibgarden der römischen und byzantinischen Kaiser Dienst tun, aber auch als Händler und Siedler. Da lernten sie das ganze spätantike Heer- und Gladiatorenwesen bestens kennen.

 

Kriegeraristokratie im Herzland des altschwedischen Reiches Modell der wikingischen Eruption

WA: In der legendären Wikingerzeit wurden die Nordmänner zu gefürchteten Eroberern, aber auch zu Staatsgründern. Sie kamen, trieben Handel und erlangten Einfluss in Europa, bis nach Russland  und auch in Afrika. Schließlich entdeckten sie sogar Amerika, lange vor Columbus. Wäre dieser grandiose Aufbruch ohne jene Militäraristokratie überhaupt denkbar gewesen, die sich einige Generationen vorher zum Beispiel in Gamla Uppsala entwickelt hatte?

 

Wamers: Ich habe den Eindruck, dass diese vor allem im Herzland des altschwedischen Reiches von Uppland erkennbar werdende Kriegeraristokratie des 6. – 7. Jahrhunderts das Modell bildete für die Ende des 8. Jahrhunderts aufbrechende wikingische Eruption

.

WA: Herr Prof. Wamers, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.