Mannes Taum.  Tagebuchroman des Ortwin Ottilinger

 

„Nichts war, nichts wird sein, alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.“

Hermann Hesse, Siddhartha 

 

„Alles geschieht jetzt oder nicht.“

HGW

 

 

I Megalopolis

 

Es ist die Stunde, da alle Energien eines Tages im Schoß der Stadt zusammenströmen. Aus Montagehallen, Konsumtempeln und Büros drängen jetzt unzählige menschliche Organismen in kurz anhaltende, dröhnende, kreischende, rasend schnell dahinschießende Transportsysteme. Ziel sind ihre heimischen Betten und Tische. Dort ruhen sie und regenerieren, bis sich anderntags erneut ihr Dasein erfüllt.

 

Im Zentrum warten hunderttausend zuckende Schlitze auf die Einführung der Geldkarten. Wie gespendetes Blut aus den Speichern der Individuen halten sie das System am Leben.

 

Die Menschen in den Straßen machen auffallende, hüpfende Schritte, immerfort bemüht, Hindernissen auszuweichen. Ihre Köpfe sind steil aufgestellt, hinter die Schultern zurückgerissen, in typischer Panikhaltung, wie man sie von ängstlichen Lämmern kennt, die aus der erdrückenden Masse einer Herde nach ihrer Mutter Ausschau halten oder nach einem herannahenden Feind. Die Menschen in den Straßen sind fliehende Lämmer.

 

Aus den grauen Betonkörpern der großen Bauwerke, die so nackt sind, wie enthäutet, so dass man ihnen ein Fell übergezogen hat, aus bunten Lichterlocken, fletschen unsichtbar die Zähne des Bösen. Über die Glasfronten der Einkaufstempel irrlichtert es lila schillernd. Schreiend grelle Flammen aus Neid und Habgier züngeln nach jedem Rest von Würde.

 

Aus großer Höhe nimmt man die Megalopolis wahr als einen braunroten Fleck, zerfurcht, dünstend, gärend und dampfend. Aus geringer Entfernung sieht man, dass massenhaft verschiedenfarbige Wesen aus der Anhäufung quellen, in Behausungen verschwinden während andernorts neue auftauchen, die sich ebenfalls unaufhörlich fortbewegen. Es  wimmelt.

 

Kranker, stechender Atem von fahlgelber Färbung hängt über verätzten Dächern. Und drunten in den Schluchten der Straßen wechseln hastig die Farben, verwehen schnell Gerüche und Töne, kommen neue hervor, verwest ohne Unterbrechung, was der Moloch gebiert.

 

Die heiße Mitte der Stadt ist in geiles Rot getaucht. Doch gleich dahinter, wo über dunkle Schleusen der tägliche Bedarf hereingepumpt und alles Überflüssige hinausgepresst wird, wo beißender Gestank und staubender, krachender Lärm die Luft erfüllen, breitet sich hingeduckt die Kampfbahn des nachtschwarzen Hasses aus, mit ihren Ausgeburten und Verstoßenen. Sie warten auf ihre Stunde und haben Wut.

 

Auf den Bahnschienen liegt ein lichtrosa Bündel, umstellt von blauen, zuckenden Lichtern und durchbohrt von brandgelben Blicken aus hundertfachen Augen, die gierig das Unheil aufsaugen.

 

Tief ins Herz der City ist die Kathedrale gerammt, ragt drohend daraus hervor und gemahnt erschreckend an den allgegenwärtigen lieben Gott. 

 

Zwischen mächtig aufragenden nackten Bürotürmen und den stählernen Schenkeln der Brücken bricht die Sonne ihre Bahn ab und taucht hinter einem groben Wolkenvorhang aus blau-gestreiften Orangentönen lautlos unter. Der Druck der Nacht entlädt sich schließlich in einem gewaltigen Orgasmus. Das Zentrum zuckt, ejakuliert, verdaut, kollabiert bis der Morgen heraufdämmert.

 

II Aposiopese

 

Der Mann hinter dem Steuer windet sich durch die verknoteten Adern der Verkehrsströme, die von roten, gelben und weißen Lichtreflexen durchzuckt werden. Schier unendlich dehnt sich die Stadtlandschaft. Endlich erreicht er mit seinem Fahrzeug die blutleeren Ränder der Siedlungskrake. Dann bleiben auch sie zurück in der weiten, dunklen Ebene, die von spärlichen Erhebungen begrenzt ist, über die sich der städtische Dschungel aber ebenfalls schon hermacht, so dass die Horizonte der Hügelketten sich auflösen und die wahre Ausdehnung der Megalopolis nur noch vom Flugzeug aus zu erkennen ist.

 

Im Rückspiegel des Wagens ist unter dunklen Schatten das letzte Rouge der Stadt zu erkennen. Die schwarzen Hügel links und rechts, die aus der Ebene hinaus geschwommen scheinen, wie Riesenschildkröten an den Rand einer Lagune, schieben sich immer dichter an die Straße heran. Dann sind sie urplötzlich verschwunden, und vor den Scheinwerfern breitet sich grenzenlos das ebene Sumpfgelände einer Niederung aus, die dem Meer vorgelagert ist.

 

Der Mann kurbelt die Scheibe herunter. Neben den Fahrgeräuschen ist nur noch das leise Hecheln des Windes zu hören, der über Wogen aus Gras und Schilf dahineilt. Die Luft ist aufgerauht. Ihre salzige Oberfläche bekommt den Lungen ungleich besser als der glatte und heiße Atem der Stadt.

 

Es kommen jetzt keine Kreuzungen mehr. Nur noch diese eine schmale Straße führt weiter. Als sie nach einer Weile einmal leicht bergab hängt, kann der Mann die stumpfe Fläche des Meeres in der Ferne schwach erahnen. Danach verläuft die Fahrbahn wieder eben. Niedrige Dünen und im Luftzug winkende Büsche, die vom Licht kurz erfasst werden, engen den Weg eine Weile ein.

 

Dann  hört jeglicher Bewuchs auf. Auch die Dünen verschwinden. Der Wagen rollt über eine harte, leicht sandige Fläche, die von Sümpfen begrenzt ist und bald keinerlei Weg mehr erkennen lässt. Am äußersten Rand der Ebene taucht, angelehnt an ein Felsenriff, das an einen gestrandeten Wal erinnert, ein dunkles, geducktes Holzhaus auf, mit einem Garten daneben, vor dem das Fahrzeug schließlich hält.

 

Der Mann betritt die niedrigen Räume und atmet den vertrauten Duft des Holzes ein, der ein wenig überlagert ist von einem Film aus Staub und verdunsteten Sekreten, wie er auch in schlecht gelüfteten Zimmern alter Menschen hängt oder in Kirchen, vornehmlich in Beichtstühlen.

 

Der Mann öffnet ein Fenster. Der frische, kräftige Atem des nahen Meeres schnaubt durch die Öffnung herein und bläst die schwere, abgestandene Luft rasch hinaus in die Flüchtigkeit der Atmosphäre.

 

Der Blick aus dem Fenster geht in jene Richtung, in der die Stadt liegt. Von ihr ist kein Laut mehr zu hören, kein Schimmer mehr am geschwärzten Himmel zu erkennen. Vor dem Mann liegt tiefe, friedvolle Dunkelheit und die einhüllende Stille der Nacht.

 

Nur ein einziges schwaches Licht bahnt sich einen Weg auf der rechten Seite seines Blickfeldes durch ferne Bäume hindurch. Es mag zu einem Haus gehören oder zu den Signaleinrichtungen der Schifffahrt. Bei Tag ist in dieser Richtung aber niemals ein Gebäude oder ein Mast zu erkennen. Der Mann schenkt der Erscheinung weiter keine Beachtung.

 

Er ist froh, den brodelnden Eingeweiden der Stadt jetzt so fern zu sein. Seine Schultern sinken herab. Wie aus der feuchten Erde draußen die Kühle der Nacht, so steigt in ihm Ruhe empor, von Pore zu Pore.

 

Der Mann zieht langsam das Fenster zu. Er löst gerade die Hand vom Griff, als er bemerkt, dass das ferne Licht zwischen den Bäumen verlischt. Und dann ist plötzlich ein saugendes Geräusch in der Luft. Die Glasscheibe vor ihm wölbt sich im Zeitlupentempo nach außen. Als sie zerplatzt, wird der Mann von einem gewaltigen Sog gegen die Fensterbrüstung gerissen. Sein Oberkörper klappt wie der Griff eines ausgeleierten Taschenmessers durch die Höhlung nach draußen. Besinnungslos rutscht er über das Fensterbrett und über die Felsen. Als der Sog in Sekundenschnelle verebbt, liegt der Mann auf dem harten Boden neben dem Riff an das einmal sein Haus angelehnt war, wie ein achtlos hingeworfener, leerer Schlauch. Die Welt, das Leben sind abgebrochen. Verstummt. Ein Geschehen wie von einem griechischen Dramenschreiber mit ausgeklügelten Stilmitteln verfasst. Mitten im Satz, im Gedanken, verstummt. Aposiopao, Aposiopese - Schweigen, Bruch.

 

Die letzten Dinge geschehen, ohne dass der Mann sie wahrnimmt. Übers Meer tanzt eine breite Woge vielfarbiger Blitze heran. Es sind die aus allen Richtungen der Windrose zusammengesogenen Schiffe. In holzkohlekleinen, rot aufglühenden Teilchen prasseln sie wie ein Teppich aus winzigen Geschossen über die Sümpfe und verlöschen.

 

Reglos und ohne Zeitgefühl liegt der Mann da, hart an die Felswand gepresst. Sein Atem geht flach. Die Augen sind geschlossen. Ewigkeiten vergehen. Draußen auf dem Wasser gleißt das Tagesgestirn in niemals  gesehenen violetten und grünen Ringen, die über die Fluten springen. Die Farben verlöschen spät, kommen früh am Morgen wieder und tauchen den Mann tagelang in ihr geheimnisvolles Licht.

 

Intensive Strahlen verbrennen seine Haut. Im monotonen Auf und Ab der Sonne wird die Epidermis pergamenten. Der Mann ist auf die steril gescheuerte Erde hingestreckt, wie eine Todesrune aus alten Mythen. Aber er ist nicht umgekommen. Er ist nicht tot.

 

Eine erste Empfindung beginnt tief in seinem Innern. Lange bevor er die Augen aufschlagen kann, taucht aus seiner Körpermitte der Schmerz hervor und sein Verstand formuliert erstmals wieder einen Gedanken: Durst! Als würde man ein Aggregat anwerfen, so reagiert der Mann auf den Schrei in seinem Kopf. Er presst die Hände auf den Boden, stemmt mit den Armen seinen Oberkörper hoch. Er kommt mühsam auf die Knie. Mit einer Hand stützt er sich weiterhin ab, mit der anderen reibt er die verkrusteten Augen frei. Er gelingt ihm, die Lider anzuheben. Licht dringt in die Pupillen. Allmählich entsteht das Bild der Umgebung vor seinen Blicken.

 

Da liegt die felsige Ebene, an deren gegenüberliegendem Ende der Weg zur Stadt zurückführt. Doch dieses Ende ist nicht zu sehen. Die Augen des Mannes starren in eine graue, horizontlose Leere. Das Bild erinnert zunächst an Nebel, der aus einem Tal hochsteigt. Aber das ist kein Nebel. Die graue Öde vor ihm bewegt sich nicht im Geringsten, sie hat überhaupt keine Struktur. Sie scheint nirgends zu beginnen und nirgends aufzuhören. Der Blick rast über die Fläche, geht suchend nach links, nach rechts. Überall nur konturloses Grau, ohne jegliche Begrenzung. Zu sehen ist nur das Nichts.

 

Von den Schulterblättern des Mannes kriecht Kälte den Nacken hoch. Die Kopfhaut zieht sich krampfartig zusammen, so sehr, dass die Ohren zu schmerzen beginnen und der Schädel vom letzten Halswirbel bis zur Stirnhöhle zittert und bebt.

 

Der Mann sucht mit entsetzten Augen immer von neuem die leer gefegte Fläche vor dem Haus ab. Er rekonstruiert die Stelle, wo sein Auto seit jenem Abend steht. Aber es steht da nicht. Es steht nirgends. Nicht einmal eine Reifenspur ist zu sehen. Der Wagen ist spurlos vom Erdboden verschwunden. Alles, die ganze Welt ist verschwunden. Nur der felsige Krümel, auf dem er steht, ist, soweit er sieht, geblieben.

 

Durst brüllt es wieder in seinem Kopf, Durst, Durst! Zurück zur Stadt, wo es Getränke in Hülle und Fülle gibt? Dahin führt kein Weg mehr. Aber es muss doch irgendeine Himmelsrichtung geben, in der etwas ist.

 

Vielleicht vom Riff aus, von oben – möglicherweise ist von dort mehr zu sehen.

 

Der Mann kriecht auf allen Vieren ein Stück an den Steinen entlang. Langsam zieht er sich an einer günstigen Stelle auf die Felsen hinauf. Als er sich umschaut, um den Weg zur Stadt zu suchen, beginnt sein Kopf zu rasen wie eine Kompassnadel im Metallkäfig. Jetzt kann er es sehen. Er muss es sehen: Alles Land ist verschwunden. Die Straße, die Hügel, die Pflanzen. Es existiert überhaupt nichts mehr, soweit er schauen kann. Nur diese graue Leere breitet sich vor ihm aus. Enttäuscht rutscht er über den rauhen Fels wieder auf die Ebene hinunter.

 

Ganz unten am Riff liegen ein paar Holzbohlen, eingeklemmt hinter dem Felsen. Es sind die Reste seines Hauses. Hinter dem vom Sog zerstörten Haus gibt es einen Brunnen, mit dem der Garten versorgt wird. Der Mann schindet sich über die schroffe Fläche, um zu diesem Brunnen zu gelangen, kriecht schwer atmend durch die wenigen Trümmerreste des Hauses. Unter den Bohlen stößt er auf eine schräge Schicht Erde. Der Sog hat den Garten wie ein Tuch aufgefaltet und an das Riff gepresst. Die Reste des Hauses sind darauf gestürzt. Der Brunnen ist begraben.

 

Auf einmal nimmt der Mann einen veränderten Geruch wahr, der ihn an verbranntes Eisen erinnert, das durch ungeheure Wucht in hartes Gestein gerammt wird. Und dann sieht er, dass die Erde schon kurz hinter dem Riff aufhört. Nur wenige Meter breit ist die Fläche. Dann kommt eine Abbruchkante. Dahinter ist nichts mehr. Einfach nichts. Nur graues, leeres Nichts. Und dieser Geruch verglühter Materie.

 

Der Mann läuft nach links und nach rechts. Immer an diesem Abbruch entlang. In beiden Richtungen stößt er auf die Sümpfe, die den Landvorsprung vom Meer absperren. Von ihnen scheint also noch etwas vorhanden. Sie sind leer gerupft von allem Bewuchs. Ihre braune Fläche ist abgetrocknet. Aber schon beim ersten Schritt auf das tragfähig aussehende Moor sinkt der Fuß knöcheltief ein, so dass der Mann entsetzt zurückschreckt. Vorsichtig klettert er auf allen Vieren zur Kante des Abbruchs. Er will es sehen, wie tief die Kluft vor ihm ist und ob es eine Chance gibt, hinunterzusteigen, um sie zu überwinden.

 

Seine Finger berühren den äußersten Rand, greifen weit darüber hinaus in die fürchterliche Leere. Der Mann legt sich auf den Bauch, um die Arme noch mehr recken zu können, ohne zu stürzen. Schließlich zieht er mit Armen und Händen den Oberkörper nach vorne, bis sein Kopf auf Augenhöhe über die Kante ragt.

 

Vollgesogene Lungen, bis zum Platzen gefüllt, das Zwerchfell vor Todesangst gespannt über die Schmerzgrenze, die Brauen gewaltsam hochgezogen und die Pupillen aufgerissen, dass sie fast die ganze Iris mit ihrer Schwärze ausfüllen, so starrt der Mann vor sich hinunter in die Tiefe.

 

Seine Blicke rasen an der senkrechten Wand abwärts. Aber nach wenigen Metern schon entschwindet jede Einzelheit in dem lähmenden Grau, das einfach alles ausfüllt. Es gibt keinen Weg mehr. Es ist kein Land mehr. Einzig das Meer scheint geblieben, es gehört vielleicht zum Rest einer Welt, die ansonsten verschwunden ist. Das Meer und die Sümpfe davor. Wie weit sie aber reichen, ob auch sie nur abgetrennte Teile sind, die der Sog übrig gelassen hat, das kann er nicht erkennen.

 

Der Mann lässt erschöpft seine Hände über den Abbruch schlenkern und den Kopf auf die Kante fallen. Seine Gefühle erstarren. Das limbische System seines Kopfes liegt in tiefem Koma. Empfindungslosigkeit breitet sich über ihn wie eine Plane.

 

Einzig das rationale Zentrum in seinem Gehirn arbeitet präzise, schreit nach Wasser, will nichts von Aufgabe und bitterem Ende wissen. Du musst, dröhnt es unablässig. Du musst den Brunnen ausgraben!

 

Der Mann schiebt langsam seinen Körper von der Kante zurück. Er richtet sich auf, geht einige Schritte auf das Riff und die Reste des Hauses zu, bis ihm plötzlich die Beine versagen. Er sinkt auf die Knie. Dann kippt sein Körper zur Seite und fällt schließlich schwer auf den Rücken, so dass der Hinterkopf aufschlägt. 

 

III Anima

 

Auf dem Wasser versinken die violetten und grünen Strahlen in purpurnem Feuer. Über den Himmel schwimmt das schwarze Fell der Nacht. Aber als schon wieder erste, lichte Töne am Horizont durchscheinen, reißt der dunkle Balg auf und gießt die Erde.

 

Der erste Tropfen klatscht in die spröde, rissige Haut der Unterlippe. Sie beginnt aufzuquellen. Feine Runzeln im ganzen Gesicht füllen sich mit Feuchtigkeit. Vertrocknete Poren schlucken die dichter fallenden Tropfen. In den Furchen des verbrannten Antlitzes bilden sich kleine Rinnsale. Über die Nase tropft Wasser in den Mund. Vom Hals auf die Brust hinunter laufen schmale Bäche, stürzen über die Rippen haltlos zu Boden.

 

Langsam kriecht feuchte Kühle über den besinnungslosen Mann, streichelt feine Nervenenden, reanimiert die Sinne. Er erwacht, hebt die Lider. Doch prasselnde Tropfen schlagen hart auf die empfindlichen Glaskörper. Der Mann schließt die Augen, öffnet stattdessen gierig den Mund. Schließlich dreht er sich auf den Bauch, formt die Hände vor seinem Kopf zu einer Schale und schlürft unaufhörlich Regenwasser in sich hinein. Die Luft um ihn herum riecht wie nasse Mäntel. Der Mann atmet tief und angestrengt. Trinken am Rande des Verdurstens wird zur Schwerarbeit. Er ist davon bald so benommen, dass er auf die feuchte Erde zurücksinkt.

 

Als Steine und Sand zu dampfen beginnen unter den warmen Strahlen des heraufziehenden Lichts, bäumt der Mann seinen Körper auf, geht um den nassen Fels herum zum zweiten Mal zu den Trümmern seines Hauses. Es sind nur ein paar Bohlen der Kammer, die direkt an das Riff grenzt, und ein kleiner zerborstener Rest des Daches darüber. Zersplitterte Bretter an den Stein geklatscht und in der Schieflage liegengeblieben wie hingetackert. 

 

Der Mann zieht zersplitterte Bohlen, Bretter und Latten beiseite, die über jener Ecke des Gartens liegen, in der sich der alte Brunnen befindet. Mit bloßen Händen fängt er an, das Erdreich zu durchwühlen, um den Brunnenschacht freizulegen. Er stößt auf Wurzeln und verschüttetes Gemüse. Ohne in seiner Grabarbeit innezuhalten, beißt er Stücke von Rüben und Knollen ab, bis er satt ist.

 

Nach Tagen findet der Mann eine rostige Schaufel unter den Erdmassen. Mit ihrer Hilfe gräbt er die Erde um, bis er auf den Deckel des Brunnens stößt. Als er ihn freiräumt hängen darunter tatsächlich noch das alte Seil und der Eimer.

 

In vielen Wochen harter Arbeit gelingt es dem Mann auch, den Garten wieder einigermaßen auseinanderzufalten. Schaufel für Schaufel trägt er die Erde zurück auf die Beete. Er steckt Wurzeln hinein, sät jedes Samenkorn, das er findet, und ist am Ende überzeugt zu überleben.

 

*

 

Der Mann stellt sich immer dann, wenn die Lichter draußen auf dem Meer tanzen und das Areal zwischen ihm und der Kante beleuchten, an den Abbruch und ruft, bis er heiser ist. Niemals hört er ein Echo. Seine Stimme verfliegt im Nichts. Er steigt auch immer wieder auf die höchste Stelle des Riffs, um so weit zu sehen, wie es nur irgend geht. Aber außer der unendlichen Fläche des Meeres, das hinter den breiten Sumpfgürteln blinkt und auf dem niemals mehr ein Schiff zu sehen ist, kann er nichts erkennen. Auch nicht, ob der Ozean irgendwo über die Kante fließt oder ob seine Ufer ungebrochen sind.

 

Der Mann geht auch immer wieder zu den Sümpfen, um vielleicht einen Weg zur See zu entdecken. Und immer ist es vergebens. Das Wasser bedeckt wieder weitgehend die Oberfläche, und die Sumpfpflanzen wachsen nach. Von Mal zu Mal ist das Grün über den schwankenden Moorschichten dichter und dichter. Der sumpfige Gürtel, der sich kilometerbreit um sein Eiland schlingt, ist absolut unzugänglich.

 

Wie eine Halbinsel ragt die steinerne Fläche mit dem Riff ins Meer. Sie hat die Form einer Faust, die den felsigen Walbuckel umklammert. Aber das Land, zu dem diese Faust wie zu einem Körper gehört, existiert nicht mehr.

 

Der Mann sitzt auf einem winzigen Mauerrest der Welt. Eine Ritze ist mit Erde gefüllt. Das ist sein Garten. Sonst ist nichts. Es existiert nichts anderes mehr. Der Kopf versucht unentwegt, eine Antwort zu finden auf die Frage, was geschehen sei. Aber alle gängigen Begriffe versagen. Erdbeben? Supergau? – Worte, die nichts erklären können.

 

*

 

Alle Gedanken des Mannes haben ein Zentrum, in das sie jeden Tag von neuem einmünden: Bin ich allein? Lebe ich ein Leben, das es gar nicht mehr gibt? Erlebe ich das Umgekehrte jener mich früher bedrückenden Vision, dass die Welt nach meinem Tod einfach weitergeht, als sei nichts geschehen und ich sie sehen kann, ohne mich, und sie sieht aus wie immer?

 

Lebe ich jetzt weiter wie immer, aber die Welt, zu der ich gehöre, ist überhaupt nicht mehr da?

 

Niemand sieht mich? Niemand hört mich? Niemand braucht mich? Ich kann mit niemandem sprechen? Ich gehöre nirgendwo mehr dazu?

 

Ich bin der Blinde am Leierkasten, der die Kurbel an seinem Rad dreht, obwohl er den Atem des Publikums schon lange nicht mehr spürt! – Ich bin der letzte Mikrochip eines Systems, das nicht mehr existent ist. Ich bin wie der helle Strahl einer Super-Nova, der durch das Universum geistert, obwohl der Stern längst verloschen ist. 

*

 

Der Mann sitzt in seinem Garten. Er beobachtet die Pflanzen, die üppig gedeihen. Dann und wann steht er auf und rückt ein Brett an der Stelle zurecht, an der einst sein Häuschen stand. Er lehnt nach und nach alle alten Bohlen und Balken gegen den Fels, so dass sie etwas Halt finden. Einige Bretter spreizt er quer durch die senkrecht gestellten, so dass das Bauwerk etwas an Stabilität gewinnt, obwohl er kein Werkzeug hat, um wirkliche Reparaturen ausführen zu können. Außer dem Brunneneimer am Seil, der gleichzeitig als Waschzuber dient und als Trinkgefäß, und der alten Schaufel besitzt er nichts, was an die Zivilisation erinnert. Der Mann umschreitet jeden Tag einmal die Faust mit dem Riff darauf, dieses winzige Eiland seiner Existenz. Die Angst im Bauch, die immer dann ausbricht, wenn er an der Kante und dem grauen Nichts dahinter entlanggeht, lernt er zu ignorieren.

 

Er hört niemals einen Laut bei seinen Rundgängen, und seine Blicke versinken in der grauen Unexistenz. An seine Ohren dringt nicht einmal vom Meer her ein Geräusch. Es ist zu weit entfernt. Er vernimmt nur seine eigenen Schritte, die Atemzüge, manchmal irgendwo das Platzen einer Samenschote an einer der Pflanzen oder das spärliche Rieseln von Sand.

 

Auch wenn er sich durch die Haare fährt, gibt es ein leises Rascheln. Und der Stoff seiner immer brüchiger werdenden Kleidung knistert und bröselt manchmal hörbar.

 

Der Mann geht trotz des abweisenden Charakters der Moorflächen auch immer wieder an deren Rändern entlang. Der Wunsch, doch einmal eine Furt zu entdecken, ist immer noch mächtiger als das Wissen, dass es niemals geschehen wird. Jedes Mal kommt er erschöpft und deprimiert zu seinem Riff und den paar Habseligkeiten zurück. Aber er kann die Hoffnung nicht aufgeben.

 

*

 

Bei einer seiner Erkundungstouren entlang der Sümpfe funkelt plötzlich am Rande einer ölig schimmernden Pfütze ein heller Punkt. Der Mann bückt sich, sein Gesicht spiegelt sich im dunklen Wasser und erschreckt ihn wie schon oft. Doch diesmal ignoriert er den Adrenalinstoß, den ihm sein eigener, verwahrloster Anblick verschafft. Er läuft nicht weg, sondern lässt sich vorsichtig auf die Knie gleiten. Neugierig starrt er in den Morast. Er bemerkt eine schwache Bewegung.

 

Ein kleiner, gelber Punkt ist im dunklen Moor zu erkennen. Er ist es, der sich bewegt. Der gelbe Punkt regt sich.

 

Der Mann beugt sein Gesicht noch tiefer hinunter. Fast taucht sein Bart in den Schlamm ein, da bemerkt er, dass der Punkt ein winziges Insekt ist, das sich aus der schmutzigen Brühe wühlt. Das Wesen erreicht einen niedrigen Moorklumpen, der sich über das Wasser hebt. Der Mann kann endlich erkennen, was sich vor ihm bewegt. Es ist ein kleiner, goldfarbener Käfer, wenige Millimeter groß.

 

Der Mann spürt sein Herz klopfen, als würde mit Stöcken gegen das Brustbein getrommelt. Das dumpfe Schlagen übertönt jedes andere Geräusch. Dennoch legt er sein Ohr über den Moorbrocken, auf dem das Tierchen krabbelt. Er lauscht mit angehaltenem Atem, ob er nicht doch die Beinbewegungen oder die kleinen Schritte hören kann. Aber es sind immer nur die eigenen Geräusche, die seine Sinne wahrnehmen: Haarsträhnen, die knisternd hinunterfallen ins moorige Wasser, das Knacken eines Halswirbels, die rhythmischen Herzschläge.

 

Seit dem großen Sog gibt es auf dem abgebrochenen Eiland nicht nur keine Geräusche mehr, sondern auch keine Fortbewegung außer der des Mannes. Nichts außer ihm kann sich von einem Punkt entfernen und einen anderen aufsuchen. Die Winde sind verstummt, die wenigstens ein Blatt befördern könnten. Das Moorwasser fließt nicht. Die Pflanzen stehen unbewegt in seinem Garten. Und wenn Samen ausfallen, landen sie direkt senkrecht unter den starren Halmen.

 

Der letzte Rest der Welt, seine Unexistenz, ist ohne Bewegung und vollkommen lautlos wie die Tiefe des Alls oder der Mittelpunkt des Mondes.

 

Doch nun krabbeln sechs Beinchen durch die Totenstille. Der Mann legt vorsichtig einen Finger auf den Morkrümel. Ganz langsam schiebt er ihn dem Käferchen entgegen. Es bleibt stehen. Dann setzt es seine unendlich feinen, kupferglänzenden Krabbelbeinchen hurtig wieder in Bewegung. Tippel, tippel, tippel.

 

Die haardünnen Füßchen berühren seitlich am rechten Zeigefinger die Haut des Mannes. Der erste Kontakt mit einem Lebewesen seit einer Unendlichkeit des Alleinseins.

* 

IV Helena

 

Das Herz des Mannes hämmert unentwegt. Seine Ohren dröhnen. Jeder Pulsschlag erschüttert sein Trommelfell. Seine Hand zittert. Endlich setzt das kleine Geschöpf seine Trippelfüßchen wieder in Gang und rennt den Fingerhügel hinauf, eilt über den Handrücken und bleibt mitten auf der behaarten Fläche stehen.

 

Hoffentlich hat es keine Flügel zum Fliegen, schreckt der Verstand den Mann auf. Seine Augen suchen sofort Goldkäferchens Rücken ab. Er kann jedoch keine Flügelabdeckung erkennen und beruhigt sich.

 

Dennoch bleibt er vorsichtig. Die linke Hand formt er zur Fallgrube, und ganz rasch schnippt er den gelben Winzling hinein. Mit der anderen Hand deckt er das Behältnis ab.

 

Kaum ist das kleine Insekt in die Reichweite des letzten Menschen gelangt, schon ist es gefangen. Der Mann will es besitzen. Es soll ihm nicht mehr entkommen, er will, dass es mit ihm in Gemeinschaft lebt.

 

In der warmen Dunkelheit des Handkäfigs hört das Krabbeln sofort auf. Als der Mann neugierig den Daumen anhebt, um in die Grotte hineinspähen zu können, sieht er, dass das Käferchen die Beine eingezogen hat und mit bewegungslosem Körper auf der Lebenslinie seiner Handrillen kauert.

 

Der Mann eilt über die harte Ebene zu seinem Verschlag. Dort setzt er das Tierchen auf ein Brett. Er kann sich überhaupt nicht satt sehen an den Kribbelschrittchen der Käferbeine, die sich jetzt wieder emsig bewegen.

 

Argwöhnisch behält der Mann das kleine Wesen im Auge, während er mit den Händen eine kleine Fläche der Erde festpatscht – direkt neben dem Zugang zu seiner Bretterbehausung und hart am Felsen gelegen. Er tränkt das planierte Fleckchen mit Wasser und reibt es mit der Handfläche glatt wie Beton. In gleicher Manier errichtet er dreiseitig eine Mauer aus Erde, die mit der Riffwand zusammen ein enges, fest gefügtes Geviert bildet. In das Gelass setzt er den Goldkäfer, den er ohne Zögern zu seinem Gefährten bestimmt.

 

Das kleine Insekt versucht sofort, an einer der senkrechten Flächen hochzuklettern, dabei fällt es jedoch nach wenigen Augenblicken auf den Rücken. Hilflos strampelt es mit seinen filigranen Beinchen in der Luft herum. Der Mann beugt sich hinunter zu ihm, ganz nah, und dann beginnt er zu flüstern, denn die normale Stimme wäre viel zu laut für die Miniaturbehausung und das putzig kleine Lebewesen darin: Soll ich dir helfen? Möchtest du, dass ich dich wieder auf die Beine stelle? Augenblicklich hört das Gestrampel auf. ohne jede Bewegung liegt der winzige Käfer auf dem Rücken.

 

Der Mann senkt sein Gesicht noch tiefer hinunter. Ganz dicht bringt er es an das kleine Wesen heran. Er versucht direkt in die Facettenaugen zu schauen, aufs äußerste gespannt, ob er wohl eine Regung zu erkennen vermag. Was er sieht, sind bewegungslose schwarze Tüpfelchen ohne irgendein Zeichen von Anteilnahme.

 

Der Mann richtet enttäuscht seinen Oberkörper wieder auf. Sofort beginnt der Käfer mit seinen Beinchen zu strampeln.

 

Der Mann spürt, wie ihm vor Aufregung winzige Schweißtröpfchen auf Stirn und Kopfhaut hervorquellen. Nun ist er sich sicher: das ist Kommunikation. Eine Verständigung ohne Sprache. Das kleine Wesen reagiert ja schließlich auf ihn. Das Gesicht des Mannes verklärt sich, er seufzt vor Rührung, sagt eindringlich zu sich selbst: es zappelt und hört damit auf, je nachdem, wie ich mich verhalte. Goldkäferchen und ich, wir können uns verstehen, irgendwie.

 

Wieder nähert der Mann sein Gesicht dem goldenen Insekt, das mit rudernden Beinchen auf dem Rücken liegt. Kaum vernehmlich haucht sein Mund diesmal die Frage, ob er ihm aufhelfen soll. Wieder hört das Gestrampel abrupt auf. Er zielt nun mit einem von einer Pflanze gebrochenen Stengel genau auf die Füßchen des Insekts. Sobald sie das Pflanzenteil berühren, greifen sie zu, und das flinke Wesen hangelt sich, dem Halm folgend, vom Boden hoch. Der Mann hievt den Goldkäfer auf seine Hand hinauf. Sofort lässt das schimmernde Krabbeltierchen den rettenden Stengel fahren und trippelt auf allen Sechsen über die warme Haut.

 

Plötzlich bleibt es stehen. Es hebt fast unmerklich seinen Leib an, so, als würde es tief durchatmen. Wieder blitzt im Kopf die Warnung auf: Vorsicht! Vielleicht kann Goldkäferchen ja doch fliegen. Aber da senkt sich der Leib schon wieder. Das Tierchen trippelt weiter. Zurück bleibt ein kleines, gold-orangefarbenes Tröpfchen auf der rosigen Handfläche.

 

Der Mann glaubt einen Ausdruck der Zufriedenheit und des Wohlbehagens in der Haltung des Käfers zu beobachten, als dieser sich jetzt wieder fortbewegt.

 

Er setzt das Insekt in die Einfriedung zurück. Dann holt der Mann einen kleinen Klumpen Moorerde von den Sümpfen, legt ihn in die Mitte der Umzäunung, damit das Wesen eine Gelegenheit hat, sich zu verbuddeln und Nahrung zu finden, wie er sich vorsagt, ganz so, als wäre es ohne ihn verloren. Er nimmt sich heraus, für das kleine Wesen zu sorgen und er glaubt zu wissen, wessen es bedarf.

 

Nun nimmt er Bretter von seinem mühsam errichteten Verschlag fort, breitet sie neben dem abgeschlossenen Revier des Tierchens auf den Boden. Er packt die schäbige Decke aus seiner Kammer darauf und verbringt hinfort Tag und Nacht neben der Käferbehausung.

 

Er hält die Moorerde feucht und wechselt von Zeit zu Zeit die Klümpchen aus, damit das Tierchen immer etwas Essbares finden könne.

 

Der Mann betrachtet von seinem Lager aus, wie Goldkäferchen geschickt in die Erde hinein und wieder aus ihr herauskrabbelt. Er begeistert sich am Spiel der winzigen Fühler, die sich nach allen Seiten bewegen und sich wie Fächer öffnen und schließen. Mehrmals am Tag beobachtet er, wie die feinen Beißwerkzeuge an verwesenden Pflanzenteilchen knabbern. Und gelegentlich sieht er, wie am Hinterteil ein Tröpfchen oder ein winziges Bällchen abgesondert wird.

 

Da der Mann sein Gesicht immer sehr nahe an das Insekt heran schieben muss, um überhaupt etwas erkennen zu können, glaubt er auch einen ganz bestimmten Geruch wahrzunehmen. Etwas in der Richtung Melisse, Lavendel, Zitrone.

 

*

 

Der Mann ist gerührt. Ein Lebewesen mit Beinchen, auf denen es sich über die Erde bewegt, ist zu ihm gekommen. Es kriecht nicht wie primitive Kreaturen, sondern es kann laufen wie er. Wenn es eine Wand erklimmen will, stellt es sich sogar aufrecht hin. Es isst und scheidet aus. Es hat eine wunderschöne goldene Haut und einen eigenen, zarten Geruch.

 

Wenn es menschliche Laute vernimmt, reagiert es mit unterschiedlichen Bewegungen. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser kleine Käfer etwas von der menschlichen Sprache versteht oder erahnt. Wer will das wissen? Wer kümmert sich schon jemals darum, wenn er nicht in einer Situation ist wie die meine?

 

Jedenfalls ist Goldkäferchen ein Lebewesen, sagt er sich wieder und wieder. Ein Lebewesen wie ich! Vielleicht wird es viel älter als ich selbst. Kann es nicht sein, dass etwas von mir auf diesen Käfer übergeht und damit weiterlebt, wenn ich ihm von mir erzähle, wenn ich mein Innerstes offenbare, meine Seele aufschließe? Vielleicht nimmt dieses Wesen Dinge von mir auf, die gar nicht der Sprache bedürfen. Es kann ja sein, dass Gefühlsatome oder Gedankenverbindungen oder Seelenschwingungen ihre eigenen Wege gehen und keinen Mund, keine Ohren, kein Sprachzentrum im Kopf brauchen. – Und wenn auch sonst niemand mehr auf dieser Welt meine Worte hört, so werden wir beide eben die letzten sein, die davon bewegt sind.

 

Der Mann schiebt dem Käferchen wieder einen Grashalm zu. Sofort hangelt es sich daran hoch und landet so auf der ausgestreckten Handfläche. Der Mann setzt sich auf den Boden, lehnt seinen Rücken an die Felsen und hält die Hand mit dem Goldkäferchen ganz nah an sein Gesicht. Dann beginnt er zu sprechen.

 

Ich komme von da drüben, von der großen Stadt. Ich habe dort ein Haus und ich liebe eine Frau. Sie lacht, wenn sie mich sieht, und ihre blauen Augen strahlen. Alle Spannungen und Ängste fallen von ihr ab, wenn wir zusammen sind. Dann fließt das Glück durch unsere Körper und Seelen. Es ist wie ein Strom. Wir sind glücklich.

 

Wenn unsere Hände sich berühren, fließt es durch uns hindurch, und es knistert. Der Mann spricht leise und schnell. Immer hastiger redet auf seinen winzigen Zuhörer ein. Er will ganz rasch alles sagen: Wir lachen zusammen und fühlen uns grenzenlos wohl. Wenn wir uns verabschieden, sind unsere Lippen heiß und die Herzen bis zum Zerspringen mit Kraft und Zuversicht gefüllt. Seit wir uns gefunden haben, wächst unser Glück.

 

Der Käfer läuft plötzlich an den Rand der Hand und tastet mit seinen Vorderbeinchen darüber hinaus. Er will herunter von dem Handteller. Weg von dem Menschen. Immer wieder versucht er, eine Stelle zu finden, um von der Hand absteigen zu können.

 

Der Mann tut ihm den Gefallen und lässt ihn in das kleine Geviert gleiten. Sofort verkriecht das Tierchen sich in die hinterste Ecke, wo es mit eingezogenen Beinchen wie ein heller Punkt reglos sitzen bleibt.

 

Der Mann sieht sich ertappt. Er erschrickt, weil er weiß, dass er lügt und dass seine Schwindelei offenbar sogar von dem winzigen Lebewesen erspürt wird. Könnte das so sein? Hat dieses unbefangene Wesen ihn durchschaut? Es wäre denkbar, sicher hat noch nie vorher jemand ausprobiert, ob das möglich ist. Wer spricht schon zu Insekten? Wer behandelt sie als seinesgleichen? Wem würde je so etwas einfallen?

 

Der Mann schilt sich selbst: Ich spreche zu ihm. Aber ich sage nicht die Wahrheit. Warum tue ich so etwas? fragt er sich. Weshalb kann ich nicht wenigstens hier im allerletzten Nichts, wo nur noch wir existieren, der kleine Käfer und ich, die Wahrheit eingestehen? Geniere ich mich? Vor dem Käfer? Sage ich die Unwahrheit, die ich jedem Menschen auch immer erzähle, aus Angst vor seiner Reaktion auf meine wirkliche Lage?

 

Der Mann schüttelt den Kopf. Es ist etwas anderes. Was hier gesprochen wird, hört ja nicht nur der Käfer, sondern höre auch ich. Darum also ist es so schwer, die Wahrheit zu sagen. Wenn ich die Wahrheit sage, muss vor allem ich sie ertragen. Ich bin mein wichtigster Zuhörer. Sogar mein eigentlicher. Ich werde mich erschrecken, ich fürchte mich vor dem, was ich zu hören bekomme. Der Käfer hört, was ihn überhaupt nicht betrifft und wahrscheinlich auch nicht berührt. Aber mich wird es erschüttern.

 

So ist es immer. Zuhörer genießen den Status des Nichtbetroffenseins. Wer etwas von sich preisgibt, spricht in erster Linie zu sich selbst, auch wenn er vorgibt, einem anderen etwas über sich zu berichten. Was er sagt und wie er es sagt, das hat  damit zu tun, wie er selbst sich sehen will und was er über sich an Wahrheit überhaupt verkraftet. Meistens ist es nicht sehr viel. - Es ist zweitrangig, wer der Zuhörer ist. Die Angst vor einem selbst ist es, die einen lügen lässt.

 

Der Mann lässt den Käfer in seiner Ecke sitzen und beginnt mit seiner Erzählung ein zweites Mal: Ich liebe eine Frau, das ist wahr. Sie weint, wenn wir uns sehen, denn sie hat einen Ehemann. Unsere Herzen stechen, unsere Hände zittern. Wir weinen beide und versuchen immer wieder, uns zu trennen. Wenn wir auseinander gehen, dröhnt eine Stimme in unseren Köpfen, die anklagt und Furcht verbreitet. Sie erschreckt unser Herz mit der Benennung unserer Schuld und unendlicher Verstrickung.

 

Wir fühlen uns verfolgt von der Moral und von den Gesetzen. Jeden Tag schwören wir uns unsere Liebe von neuem und wissen doch, dass die Gefühlsschauer, die unsere Schwüre auslösen, der eigentliche Grund sind, warum wir sie immer wieder so feierlich und leidenschaftlich aussprechen.

 

Sie sagt, dass sie ihrem Mann den Tod wünscht. Aber natürlich wird sie ihn nicht töten. Doch mir soll wegen dieser äußersten aller Ungeheuerlichkeiten, die sie mir zuliebe herausschreit, die Lust in die Brust fahren und in die Lenden.

 

Wenn wir uns paaren, sagt sie, es sei vor allem deswegen, dass sie zu mir komme. Aber sie sagt auch, dass unsere Liebe auf einer höheren Ebene steht und dass unsere Seelen sich zärtlich berühren.

 

Der Käfer erklimmt den kleinen Moorklumpen und wühlt sich von oben in die modrige Erde, bis sein gelbbraunes Hinterteil verschwindet.

 

Der Mann sitzt allein an den Felsen gelehnt und versucht, sich mit geschlossenen Augen die Frau vorzustellen. Sie sitzt am Schreibtisch, ihre dunklen, halblangen Haare umschließen das Gesicht wie eine adrette Mütze. An den Fingern stecken die unterschiedlichsten Ringe von Silber und Elfenbein. Manchmal zwei zusammen an einem Finger. Ihre weiße Bluse wird statt eines Knopfes am Ausschnitt ganz neckisch von einer großen Sicherheitsnadel zusammengehalten.

 

Sie hat den Kopf in die Hände gestützt. Die Haare fallen über ihre Brauen und die Augen. Sie weint.

 

Der Mann springt auf. Er geht zwei Schritte, stampft mit dem Fuß, dreht sich um, lässt sich wieder an der Felswand hinab rutschen. Was er sieht, ist ein Foto. Es zeigt die Frau an einem Nachmittag im Büro. Sie ist traurig über ihren Vater. Etwas Ungutes ist mit ihm. Daher die Tränen.

 

Der Mann schließt wieder seine Augen, drückt mit den Händen gegen die Schläfen. Er will sie sehen, wie sie lacht, wie sie vor ihm hergeht oder auf ihn zustürmt. Wie sie ihm um den Hals fällt, sich eine Blume ins Haar steckt, aus dem Hotelbett steigt, auf dem Autositz liegt. Er will sie schmecken, riechen, spüren, ihr Lachen hören, von dem er weiß, es ist hell, spontan und erinnert an Trompetentöne. Aber er möchte es hören. Ihre Lippen schmecken, die so prall sind, das weiß er, so ohne jegliches Fältchen, blutvoll, sinnlich. Er sehnt sich, Ihre Haare zu riechen, ihren Körper.

 

Der Mann sieht sie vor sich, dunkel gelockt diesmal, den Mund überrascht zu einem Ruf geöffnet, eine steile Falte über der Nase, die Hände verkrampft. Sie blickt nach oben, wo der Fotograf sitzt. – Wieder ein Foto, diesmal von einem Sommermorgen im Garten. Das Kleid ist dunkelrot.

 

Der Mann wirft sich auf seine Decke, bettet den Kopf auf den Arm und beschwört eine Situation nach der anderen herauf, von der er die Daten, die Gelegenheiten, die Umstände im Kopf abruft. Er will sehen, schmecken, riechen, fühlen. Die Umarmungen spüren.

 

Er weiß, dass er sich am liebsten der ganzen Länge nach in ihren Leib drückt, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Von den Zehen bis zur Nasenspitze. Ihre Augen, wenn sie dabei geöffnet sind und er aus größter Nähe direkt hineinsieht, sehen dabei besonders tief und blau und offen und unergründlich aus, wie das All, unwirklich, so dass es ihm heiß den Rücken hinunter läuft in solchen tiefen Augenblicken, die der Unendlichkeit entnommen scheinen.

 

Er versucht, auf seiner Decke das Gefühl zu beschwören, zu erwecken, dieses fließende Gefühl, von dem er weiß, dass es möglich ist. Aber er riecht nur die alten Modergerüche aus den Wollfasern und spürt das harte Brett unter seinem Körper.

 

Er erinnert sich an die Farbe von Kleidern, an ihre Parfümnamen, an lila Schuhe und weiß-blaue Blumensträuße. Ihm fallen Geburtstagsküsse ein und Parkplätze, auf denen sie zusammen weinen oder lustvoll stöhnen oder beides. Aber es bleiben Daten. Kein Haar knistert unter seinen zärtlichen Händen, keine Hitze steigt aus ihrer Haut, kein liebevoller Finger bohrt sich in seine Brusthaare. Der Mann kann das Jubilieren nicht abrufen, das seine Seele mit ihr zusammen erlebt. Nicht die Weitung des Herzens, das gänzlich auseinander fließt, bis in der Brust nur noch ein einziger großer Raum ist, in den hinein er die Geliebte mit beiden Armen presst und presst.

 

Die Unfähigkeit, sich zu erinnern, wirklich zu erinnern, Gerüche und Gefühle, Streicheleien und Kribbel zu kosten, so wie sie sind, so wie es sie ja wirklich gibt, stürzt den Mann endgültig in tiefe Verzweiflung. Jetzt erst fühlt er sich richtig einsam. Jetzt, wo er weiß, was er nie wissen wollte: Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Gefühle brechen nicht aus der Erinnerung hervor. Gefühle sind nicht speicherbar. Ich kann weder die trunkene Schönheit noch den grauenvollen Schmerz von Empfindungen abrufen. Kein Gefühl regt sich je wieder in mir, keines kann aus dem Eispanzer der Vergangenheit aufgetaut werden, der alles tötet. Ich kann nur mit dem Kopf daran denken. Ich kann die Gefühle nicht mehr fühlen. Nie mehr. Ich bin vollkommen allein.

 

Aus der dunklen Depression meldet sich die Vernunft zu Wort. Endlich wieder gefordert, macht sie dem Mann deutlich: Du musst Anknüpfungen suchen für deine Erinnerungen, Haare, die du anfassen kannst, Finger, die streicheln können, Augen, in die du blicken kannst.

 

Haare, Finger, Augen – die einzigen, die es gibt, sind seine eigenen. Seine Augen sind blaugrau. Seine Haare und Finger kann er tasten, doch sie berühren ihn nicht, wie zu erwarten.

 

*

 

Der Mann springt auf und läuft an den Brunnen. Mit Seil und Eimer zieht er Wasser herauf. Als die schwappende Oberfläche sich beruhigt, schiebt er sein Gesicht über den Behälter und spiegelt es im Wasser. Seine Augen starren ihn an. Das Bild, das er sieht, trägt nichts zur Erinnerung bei. Der Mann versucht, ihr Lächeln nachzuahmen. Aber nichts als Grimassen blicken aus dem Eimer. Das Gehirn arbeitet fieberhaft: Du musst den Anfang finden und dann der Reihe nach alle Stationen abrufen, so wird alles wieder lebendig. Logik bringt dich weiter.

 

Der Anfang, das ist ein Blick. Die Frau steht auf einem Stuhl und wischt ein Bücherregal blank. Sein Bücherregal. Er betritt den Raum. Und da ist dieser Blick. Der winzige Schatten einer bangen Hilflosigkeit liegt darin. Sie spürt, dass er in ihren Augen die Gefühle ablesen kann, die sie empfindet, aber sie weiß nicht, ob sie in sein Herz trifft.

 

Ihre Augen fragen. Der Mund ist halb geöffnet. Aber sie spricht nicht, sondern stürmt aus dem Zimmer. Und im Vorübergehen haucht sie einen Kuss auf seinen Mund, wie ein Ausrufungszeichen.

 

Der Anfang, das ist auch eine flüchtige Berührung. Die Frau lehnt im Türrahmen eines Büros und spricht durch die geöffnete Tür in den Raum. Der Mann kommt über den Flur auf dieses Zimmer zu. Er will es betreten. Noch zwei, drei Schritte ist er entfernt, da wendet sich die Frau um und will gehen. Sie zieht die Tür nach außen zu. An der Klinke berühren sich beider Hände. Nein, nicht die Hände, es sind die kleinen Finger, die sich millimeterweise wie in Zeitlupe aufeinander zuschieben. Der Mann glaubt schon, die Wärme zwischen den beiden heißen Hautoberflächen zu spüren. In diesem Augenblick lässt die Frau die Türklinke los, und die beiden Finger verhaken sich tatsächlich ganz kurz ineinander.

 

Das ist der Anfang. Aber in Wirklichkeit verhaken sich die Finger natürlich nicht von allein. Die Frau ist es, die den ihren unter den des Mannes schiebt. Der Anfang liegt also vorher, liegt tief in ihrem Herzen, in ihrer Seele.

 

Daraus entsteht die allererste zärtliche Berührung. Der Mann und die Frau sehen sich nicht in die Augen dabei. Es geschieht im Auseinandergehen. Die Berührung erschüttert ihn.

 

Warum ist er so aufgewühlt ist, von diesen Berührungen? Ist es das Bekenntnis eines anderen Wesens, das ungefragt und ungezwungen, unbestellt und unerwartet ein Zeichen gibt? Dieser kleine Finger löst ein Beben aus. In dieser Berührung steckt mehr Glück, als tausend leidenschaftliche Akte je bescheren können. Ein anderes Wesen hat sich zu ihm bekannt.

 

Der Mann geht zu einer der Bohlen seines Hauses und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Seine Arme schlingt er rückwärts um das alte, rauhe Holz. Die Handrücken schieben sich langsam aufeinander zu. Die kleinen Finger einer jeden Hand lösen sich aus der Faust und suchen einander. Der Mann erwartet, dass sich prickelnde Schauer ausbreiten, vom Hinterkopf bis zu den Lendenwirbeln, schmerzende, brausende Schauer, die alle Nerven in Höchstspannung versetzen und die Muskulatur in Zuckungen, so dass die Atmung stockt. Aber er berührt nur seinen eigenen Finger, und der prickelnde Augenblick wird nicht lebendig, die Empfindungen liegen nicht abruffertig da. Keine Gefühlskonserve öffnet sich.

 

Der Verstand kann nur die Daten wiedergeben, die Fakten. Aber wann wühlen jemals Fakten Menschen wirklich auf? Was zwischen ihnen ist, sind nicht Fakten. Der Keim kommt aus ihrem Herzen, aus der Seele, aus dem Fühlen, er ist stärker als Fakten, stärker als ihr Leben, stärker als der Tod.

 

Der Mann bleibt die ganze Nacht wach. Er gräbt in Erinnerungen. Doch je näher der Morgen heranrückt, umso deutlicher wird ihm, dass er nichts findet, von dem was er sucht. Es wird nichts warm in seinem Körper, er fühlt kein Feuer in seinen Eingeweiden, seine Seele jubiliert nicht. Er fühlt nur was gegenwärtig ist. Und das ist immer er selbst, ist sein Ausgespiensein, die Kälte seiner Unexistenz, die Ödnis bar jeder Verbindung zu Leben und sogar zum Tod. Kann er hier sterben, richtig sterben, mit einem Seufzer noch einmal auf das blicken, was im Augenblick des Sterbens um ihn vergeht – wo doch schon alles vergangen ist?

 

Der Mann kann nicht fliehen. Wohin auch. Ihm ist alles, was war, bereits entflohen. Dennoch versucht er weiter und weiter Erlebnisse heraufzubeschwören. Und immer erfährt er, dass  gerade die, von denen er meint, sie seien besonders fest in seiner Erinnerung verankert, sich als flüchtige Trugbilder entpuppen, unfassbar  bleiben.

 

Er sieht sich auf Skiern und mit Flügeln durch die Lüfte fliegen, mit dem Boot ein Flussdelta hinunterfahren, auf dem Pferderücken von seinem Elternhaus aus zur Weltumrundung starten. Und immer wieder holt das braunhaarige, kleine Mädchen, nach dem alle Jungen schielen, gerade ihn zum Tanz.

 

Selbst diese wie in einem Malbuch nachkolorierten Träume, die uralt sind, werden in der Erinnerung trügerisch und bleiben unlebendig. Es sind Fakten, Fakten von etwas verlogen Schönem. Das dazugehörige Leben ist in Wahrheit erloschen. Es sind Höhlenbilder der Erinnerung, die ihn eher ratlos machen. Wohin ist alles gegangen, was er sich ausmalt?

 

Manchmal gelingt es ihm in dieser Nacht, einen Rahmen aus der Erinnerung zu holen, der zu einem Geschehen gehört, aber er erkennt deutlich, dass er sich das Bild immer in der Gegenwart malen muss, mit den bleichen Farben der Düsternis, in der er schlaflos bleibt. Es sind Bilder seines Schmerzes, von ihm hervorgebracht, gewollte Bilder, die ihm helfen sollen.  Er malt sie, aber sie sind tot. 

 

*

 

Als draußen auf dem Meer die rötlichen Fahnen steigen und bald über sein Eiland flattern, mit der blinkenden Sonne im Banner, da thront der kleine Goldkäfer majestätisch auf dem Moorhügel wie auf dem Hügel eines Feenschlosses.

 

Der Mann ist von diesem märchenhaften Anblick wie verzaubert: Du erinnerst mich an eine Königin, ruft er, an die schönste Königin der Antike. Du bist meine Helena!

 

Helena putzt sich voll Anmut mit den zartgliedrigen Vorderfüßchen ausdauernd ihre weichen Fühler, die dunklen Facettenaugen und den Mund.

 

Der Mann spricht mit ihr wie mit einer Vertrauten. Er erzählt ihr jetzt seine Geschichte, die er auch selbst zum ersten Mal hört.

 

Es ist die Geschichte eines Mannes, der unverhofft Liebe findet. Sie begegnet ihm in Gestalt einer wunderschönen, jungen Frau, die alle ihre Sehnsüchte vor ihm offenbart. Sie erlaubt ihm dasselbe mit seinen eigenen Gefühlen. Weil sie beide diese Offenheit zum ersten Mal erleben, entdecken sie sich selbst völlig neu. Ihr eigentliches Leben beginnt erst mit dieser Liebe. Sie ziehen miteinander hinaus vor die Stadt, wo die Wege einsam sind. Dort, über grünen Ebenen, auf gelb blühenden Fluren und in lichten, bläulichen Wäldern, halten sie sich an den Händen. Sie sagen nicht einmal Du zueinander, um die Zeit der ersten scheuen Zärtlichkeit ins Unendliche zu verlängern und sie unter keinen Umständen einer flüchtigen Libido zu opfern.

 

Sie bewundern gegenseitig ihr wildes Lachen, loben die Zartheit der Lippen, begeistern sich am Gang und an den Formen ihrer Körper, erzählen sich ihre Träume und spinnen sie fort.

 

Sie gestehen sich schließlich eines Tages, dass sie miteinander im Schnee schlafen möchten. Dass sie sich überhaupt eine Begegnung zweier Liebender – damit meinen sie natürlich sich selbst – niemals schöner erträumen können als im tiefsten Winter, im alles bedeckenden Schnee.

 

Die Frau trägt einen leicht schillernden langen Mantel von der Farbe zartblau blühender Taubnesseln, die an den Kelchmündern in Lippenrot und Veilchenblau übergehen. Der Kragen ist hochgestellt und stützt die kastanienroten Haare. Das glühende Gesicht schimmert, als wäre die Haut bemalt und von innen erleuchtet. Die Lippen öffnen sich feucht unter der leicht geblähten Nase. Der Atem riecht nach Wärme und frischem Blut. Er kommt tief aus dem Innern des Leibes und schmeckt in der Schneeluft beim Küssen so sinnlich erregend wie zu keiner anderen Jahreszeit.

 

Hitze und Kälte paaren sich. Schweiß, der an den Rändern des Halses und der Haare dampft, und glasklarer, ausschießender, spritzender Speichel, der die Münder wie Champagner füllt. Eiskristalle auf den Kragen und dampfender Atem, der an den Oberlippen zu einem Flaum gerinnt, aus Lust gewoben. Zwei Körper, die in ihren Hüllen weich und feucht werden, sinken in die eiskalten Laken der Schneefelder, auf denen sie wie glühende Lava weiter kochen.

 

So träumen sie ihre Sinnlichkeit, malen sie aus, lassen sich hineinfallen in die Wogen aufschäumender Leidenschaft.

 

Der Schnee, sagt die Frau, müsste eigentlich lilarot angestrahlt sein, in der Farbe aufbrechenden Flieders. So, wie ihre Unterlippe meiner Schilderung nach in der höchsten Erregung aussehe. Diese Farbe habe der Schnee bei Sonnenaufgang für eine kurze Zeit. Wir müssten rote Kleider tragen und violette Mäntel. Und unsere weiße Haut würde rosa glühen im unendlichen Meer des Schnees. Und unser Geschlecht würde dampfen, und wir würden uns wälzen und wälzen, im fliederfarbenen Schnee verströmen. Die Frau möchte, dass immer Winter ist, wenn sie geliebt wird, und dass sie immer glüht in weiten Tüchern aus Schnee.

 

Sie drückt sich an meinen Körper und flüstert dicht unter meinen Haaren hindurch, die dabei von ihrem heißen Atem gestreichelt werden, in mein Ohr hinein: Unsere himmlische Lust kommt daher, dass wir uns nicht nur von außen berühren, sondern dass wir uns von innen anfassen, dass wir von unserer Seele aus den Bauch streicheln und unser Geschlecht. Wirklich von innen heraus. Das ist das Geheimnis.

 

Bilder so innig und schön vor seinen inneren Augen, gemalt aus der Erinnerung, unspürbar, ohne Leben, nur Sehnsüchte weckend, Trauer aufsteigen lassend von ganz innen und ganz unten bis in die Augen und die Seele. Allenfalls Tränen weckend. Was tot ist und vergangen, es bleibt tot und nichts kann es je wieder mit Blut füllen, mit Schmerz, mit Lust. Nichts, außer einem lebendigen Menschen, seinem Menschen, dieser Frau.

 

Es ist dämmrig geworden, Nacht breitet sich über der grauen Öde aus. Helena bewegt sich, krabbelt plötzlich los, und ehe der Mann reagieren kann, tippelt sie mit ihren schnellen Beinchen an den Rand des Feenhügels und stürzt hinunter. Ein Schrei flattert von den Lippen des Mannes über die sandige Ebene bis zu den Sümpfen. Er bleibt unbeweglich sitzen, aus Angst, er könnte durch eine Bewegung seiner Füße den Goldkäfer treffen und auslöschen. Er hält immer wieder den Atem an, in der Hoffnung, leise Krabbelschritte zu hören, die ihm sagen würden, wo Helena sich aufhält. Da aus der Nacht jedoch nicht das geringste Geräusch kommt, flüstert er mit nach unten geneigtem Kopf: Bitte Helena, lauf mir nicht weg. Ich bin der letzte Mensch auf diesem kümmerlichen Rest einer Existenz. Ich bin, wie alle Menschen, nicht für die Einsamkeit geschaffen. Freilich wirst du gar nicht wissen, was ich damit meine. Ich hoffe aber immer noch, dass irgendein Ganglion in dir mich versteht oder dass wenigstens Gedanken von mir auf andere Weise auf dich übergehen. Ich werde mich jetzt nicht vom Fleck rühren, denn in der Dunkelheit könnte ich dich verletzen, mit meinen großen Füßen. Aber ich werde dir meine Geschichte oder, besser gesagt, die Geschichte   von uns Menschen überhaupt erzählen, damit du endlich weißt, mit wem du es zu tun hast.

 

Ich bin auch selbst sehr neugierig, was mir hier, am Rande der Welt, für Erklärungen zu unserem Wesen bewusst werden.

 

Ohne sich zu bewegen, formuliert der Mann nun Satz für Satz. Am Anfang fällt ihm gar nicht auf, wie distanziert er sich und die Menschheit betrachtet. Doch dann reißt ihn diese Sehweise, die nur aus der Situation erklärbar ist, ganz plötzlich mit sich fort: Ich bin vielleicht der letzte Mensch, sagt er mit erstickter Stimme. Der letzte Mensch lebt am längsten, sagte unser großer Philosoph. Hier, im hintersten Nichts ist es Realität.

 

Ich weiß nicht, ob alles, was ich kenne, alle Informationen aus dem menschlichen System, die noch in mir sind, jetzt unwiederbringlich verschwinden, wenn auch ich hier zugrunde gehe. Vielleicht ist es ja wirklich so, wie viele in der Stadt voraussagen, dass das Zeitalter der Insekten anbricht. Vielleicht stimmt es auch, dass jeder Gedanke, jeder Satz, der einmal in der Welt ist, nie mehr daraus entschwindet. Solange  es eine Welt gibt, freilich.

 

Kann es nicht tatsächlich sein, Helena, dass ihr Käfer, ihr unendlich vielen Insektenfamilien und Arten Chiffren der menschlichen Substanz übernehmt oder sie als schlafende Chiffren in die nächsten Jahrmillionen transportiert? Oder dass das, was wir beide hier auf dem allerletzten Vorsprung der Vergänglichkeit sagen, hören und träumen, ferne Galaxien erreicht, wo es in irgendeiner Ewigkeit als Botschaft ankommt und vernommen wird?

 

Ich kann anders gar nicht weiter existieren als mit einer solchen Hoffnung. Das ist ein Merkmal von uns Menschen, wie ich glaube. Also will ich versuchen, das, was ich weiß, hier auszusagen, für welche Zukunft auch immer, an die ich trotz allem glaube.

 

Hör zu, Helena, solltest du das Medium sein, das künftigen Zeitaltern über uns berichtet, dann verkünde das, was du jetzt hörst:

 

Wir Menschen wissen von uns. Das ist die wichtigste Eigenschaft. Das heißt, dass wir uns selbst sehen und uns sogar in Frage stellen, uns aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beschreiben. Wir haben die Möglichkeit, uns von außen zu betrachten und uns über uns zu wundern.

 

Wir gehen zwar mit dem Hinterkopf voraus in die Zukunft, aber gerade deshalb wissen wir alles, was zurückliegt. Das ist sogar das einzige, was wir wirklich wissen. Darauf legen wir auch den größten Wert. Wir schreiben alles auf und merken uns dadurch die Geburtstage von Genies und die Todestage von Helden. Das haben wir allen anderen Lebewesen voraus.

 

Wir können uns außerdem verständigen. Wenn  noch so ein Wesen wie ich oder viele davon irgendwo auf der Welt oder im All oder unter der Erde oder auf den Ozeanen existieren, kann ich um Hilfe rufen. Sie werden mir helfen. Ich bin dann eine Sensation für sie alle.

 

Aber sie hören mich nicht. Oder es gibt eben außer mir niemanden mehr. Dann allerdings ist meine intelligente Substanz, die bis in die äußersten Spiralnebel denken kann, plötzlich wertlos.

 

Es wäre sehr schlimm, denn ich bin noch nicht alt. Die ganze Menschheit ist noch ziemlich jung.

 

Alt und jung, Helena, das sind auch zwei typisch menschliche Einteilungen. Wir Menschen haben nämlich als einzige unter allen Kreaturen ein messbares oder bezifferbares Lebensziel. Es lautet: möglichst alt zu werden. Das Ziel ist noch ziemlich neu oder auch jung. Wir haben es erst, seit wir zählen können. Erst von jener Zeit an wissen wir, wie alt wir überhaupt sind. Seither ist Alter für uns der größte Wert.

 

Das präzise Lebensziel von uns Menschen lautet: mindestens achtzig Jahre alt zu werden. Noch besser hundert. Viele von uns erreichen diese Zahlen. Wer die höchsten Zahlen schafft, wird vom höchsten Menschen geehrt. Vom Präsidenten.

 

Um alt zu werden, tun wir Menschen alles. Dafür geben wir alles. Wer ein hohes Alter versprechen kann, der bekommt von uns alles. Wir haben einen Sinn in unserem Leben, den wir mit einer Zahl beziffern können. Diese Zahl ermitteln wir, wenn wir rückwärts rechnen. Dass sie immer weiter wächst, das glauben wir. Denn unser ganzes Trachten und Denken ist auf immer mehr und immer weiter angelegt. Und der Erfolg gibt uns Recht.

 

Liebe Helena, ich glaube seit einiger Zeit, seit ich hier bin, und es keinen Kontakt zu anderen Menschen mehr gibt, dass das Leben eigentlich ein Lustprinzip ist und dass es ansonsten keine Dimension hat. So wenig wie meines, hier auf dem Garten-Eiland.

 

Aber meine Vernunft widerspricht mir sofort. Sie sieht in einem Lustprinzip nichts anderes als eine unerträgliche Verschwendung. Nicht nur meine Vernunft denkt so, sondern alle großen Gehirne. Sie lehren allen, die nach ihnen kommen, also allen Kindern, diese ökonomischen Betrachtungsweisen. Ökonomie und Effizienz: Das sind die Grundprinzipien unserer menschlichen Vernunft. Darum sind wir so erfolgreich, der Natur überlegen, euch Tieren und überhaupt allen Mächten der Welt. Denn wir ermitteln ihre Gesetzmäßigkeiten und verhalten uns dann so, dass wir daraus den größten Nutzen ziehen.

 

Während die Natur zum Beispiel immer nur gesetzmäßig abläuft, können wir Menschen uns entscheiden, was wir tun, und so das Nutzbringende erreichen. Das ist Ökonomie. Damit all unsere Nachkommen dieses Verhalten übernehmen, erziehen wir sie. Hauptziel ist der produktive Mensch, der seine Lust besiegt. Nur er wird ernst genommen.

 

Wer sich nicht formen lässt zu einem produktiven Menschen, steht außerhalb der Gemeinschaft. Wer noch nicht geformt ist, wie Kinder zum Beispiel, wird belächelt.

 

Wer seine Produktivität verlernt oder einbüßt, weil er alt wird, der wird ebenso behandelt. Mit Kindern und mit alten Leuten streiten wir nicht. Sie werden ohne Hemmungen belogen.

 

Zuneigung ersetzen wir durch Zuwendungen. Kinder und alte Menschen üben darum auch eine ziemliche Anziehungskraft aufeinander aus. Solange wenigstens, bis die Kinder selbst vernünftig geformt sind, zu brauchbaren und produktiven Menschen. Dann erscheinen ihnen Opa und Oma plötzlich als lächerlich – weil unnütz.

 

Wir Menschen sind ohne unser großes Gehirn ziemlich ungeschützte Tiere. Mit ihm aber kann uns in dieser Welt nichts wirklich gefährlich werden. Die denkende Substanz macht uns zu Übertieren. Diese Substanz kommt auf uns Menschen, ohne dass wir wissen, wie das geschieht. Manche sagen sie sei göttlich. Ich zweifle daran, denn seit ich hier allein bin, ist diese Substanz völlig hilflos. Viel hilfloser als du, Helena, als die Pflanzlichen hier, als mein tierischer Leib, mein Körper. Also keinesfalls göttlich.

 

Wenn das große Gehirn, das nur wir Menschen besitzen, uns nicht so vorfände, wie wir sind, wenn es sich zum Beispiel uns Menschen nach seiner intelligenten und ökonomischen Sicht der Welt formen könnte, dann würden wir sicher ganz anders aussehen.

 

Ich habe oft darüber nachgedacht. Wir hätten sicher unsere Lust- und Fortpflanzungsorgane nicht so unpraktisch in der Körpermitte liegen. Denn bei jeder Betätigung dieser Lusteinrichtungen sind wir dadurch von der Produktion ausgeschaltet. Das große Gehirn würde diese Organe sicherlich leichter zugänglich und besser kontrollierbar anbringen. Zum Beispiel am Hinterkopf. Wir könnten dann, während wir unsere Lust stillen, trotz Kopulation aufrecht sitzen, die  Hände frei bewegen und etwas Sinnvolles, etwas Vernüntiges tun, zum Beispiel eine Tastatur betätigen oder wenigstens unsere Körperwerte messen und die Veränderungen, die während des Verkehrs eintreten, auf dem Monitor verfolgen und aufzeichnen.

 

Ach liebe Helena, kannst du mich überhaupt hören? Es ist nicht übertrieben, was ich dir sage. Vieles wird mir selbst erst hier bewusst, in dieser für mich völlig neuen und sicher einmaligen Situation.

 

Vielleicht komme ich durch meine Analyse auf unbekannte neue Wege und Möglichkeiten. Es kann sein, dass mir meine denkende Substanz doch noch eine Rettung bietet. Aber dann muss ich auch wirklich denken. Doch durch den großen Bruch habe ich die Perspektive verloren. Es gibt nur noch eine Dimension. Ich kann nur noch zurückblicken und auf mich selbst.

 

Ich sehe jetzt, wie praktisch und bequem die Welt durch unser großes Gehirn gestaltet wird. Sie ist messbar, rechtwinklig, besteht aus Ebenen und Geraden. Alles ist handhabbar. Unsere Vernunft arbeitet immer. Auch hier im Nichts. Das System steht niemals still.

 

Der Mann brüllt plötzlich mit erhobenen Armen laut in die zähflüssige Stille um sich herum, die alles überzieht und einhüllt und die unerträglich schwer wird: Ihr Milliarden Menschen, ihr Abermilliarden Gehirne, ihr intelligenten Substanzen, ich gehöre zur gleichen chemischen Formel wie ihr! Ich denke präzise, mathematisch, logisch. Ich forme Gedanken zu Worten. Sie müssen doch irgendwo ankommen! Warum fliegt kein Flugzeug am Himmel? Weshalb ist kein künstlicher Himmelskörper da, der diesen Rest der Welt fotografiert und die Bilder zur Erde sendet? Wo ist die Erde? Was ist mit mir? Warum bin ich verlassen? Warum so verlassen? Der Mann lässt die Arme sinken. Sein Blut liegt schwer in den Adern, und die Muskulatur ist schlaff. Er wirkt so, als habe er durch seinen Aufschrei einen Energiestrang durchtrennt oder eine Sicherung überhitzt. Aus seinem Kopf kommt kein Gedanke mehr. Leblos kippt der Körper zur Seite.

 

*

 

Es ist die Härte toter Materie, es sind kleine Steine und Sandkörner, die gegen das Gewicht des Mannes ihre Konturen in die Nervenenden der Haut pressen und dadurch in seinem Gehirn erneut Impulse auslösen, die schließlich dazu führen, dass er die Augen wieder aufmacht und seinen Oberkörper aufrichtet.

 

Es ist immer noch Nacht. Kein Stern am Himmel zu sehen. Die Schwärze deckt mit dichten Flügeln den erbärmlichen Vorsprung am Rande der Welt.

 

Der Mann schlägt die Arme um seinen Leib, wagt aber immer noch nicht, seine Position zu verändern, aus Angst, er könnte Helena zertreten.

 

Er ruft leise nach ihr. Doch es gibt keine Regung auf der schwarzen Ebene, kein Rieseln hinter oder vor ihm deutet auf den Käfer hin.

 

Hoffentlich habe ich deine Behausung nicht zerstört, als ich vorhin umgekippt bin, flüstert der Mann in die Nacht, und hoffentlich ist dir nichts geschehen. Deine Burg baue ich dir wieder auf, größer und schöner. Ich werde einen richtigen Palast erschaffen, wie er einer Königin angemessen ist.

 

Aufbauen ist eine Haupttugend von uns Menschen. Wolkenkratzer, Häuser, Geschäfte, Freundeskreise, Beziehungen – alles bauen wir auf. Wir haben mit Hilfe unserer Intelligenz sogar ein System aufgebaut, durch welches die gesamte Natur erst existent wird. Alles, was in diesem System vorkommt, existiert. Dadurch kann unser großes Gehirn auch genauestens überprüfen, wie die Natur sich zusammensetzt.

 

Es ist in diesem System endgültig entschieden, was davon nützlich und was schädlich ist. Das Nützliche bevorzugen und hegen wir. Das Schädliche reißen wir aus und vernichten es. Unser System ist absolut perfekt. Wir haben auch ein Verzeichnis über all die Teile der Natur, die nicht mehr existieren oder die demnächst nicht mehr existieren werden, zum Beispiel, weil sie beim Aufbau unserer Welt hinderlich sind, oder beseitigt werden, oder verloren gehen. Diese Teile der Natur erfassen wir bereits im Vorhinein in unseren Verzeichnissen, in roten Listen.

 

Das System, so wie es beschaffen ist, entsteht durch meine Worte auch hier, auf diesem letzten Krümel der Welt vor dir, Helena, einem winzigen Käfer, dessen Nachkommen morgen vielleicht die Welt beherrschen werden, anstelle von uns Menschen. Vielleicht also nützen dir meine Worte. Vielleicht jedoch nützen sie mir mehr.

 

In der Stadt, aus der ich komme, besteht ein ökonomisches System, das allen dient. Es ist der sichtbarste Ausdruck von Intelligenz. Millionen von Menschen leben da. Aber nicht einfach so, wie ein Käfer, der frisst und ausscheidet und sich putzt. Sondern diese Millionen Menschen produzieren und konsumieren. Das ist etwas anderes. Alle schleppen pausenlos etwas von einem Punkt zu einem anderen. Sie sind immer in Bewegung. Sie transportieren unendlich viele Dinge zu sich nach Hause. Mit ihren Fahrzeugen behindern sie sich dabei gegenseitig, aber letztendlich kommen fast immer alle an ihr Ziel.

 

Der Mensch, liebe Helena, ist ein Wesen, das auf nichts verzichten kann. Wachstum ist unser Motor. Menschen gebrauchen alles und verbrauchen alles. Alles wird verarbeitet. Die Welt wird immer voller. Alles muss immerzu mehr werden und wachsen. Das gesamte Universum ist in diesem Prinzip das unausweichliche Ziel: Es wird eines Tages auf der von uns Menschen beherrschten Erde stehen. Verarbeitet!

 

Damit die intelligenten Substanzen in unseren Köpfen sich rasch von einem Punkt zu einem anderen bewegen können, haben sie riesige, glatte Bänder durch die Natur gelegt, auf denen sie mit ihren Fahrzeugen dahinrollen. Es sind Schneisen der Intelligenz durch die dumpfe und primitive Natur hindurch, und wenn du auf einer Brücke über solchen Bändern stehst, oder am Rande einer solchen Piste, kannst du die geballte Kraft  und Wucht des großen Gehirns hören. Der Schrei der Vernunft lässt dir das Blut im Herzen gefrieren.

 

Das große Gehirn, das nur wir Menschen besitzen, hat aus uns die mächtigsten Produktions- und Kampfmaschinen gemacht. Im Kopf, wo die intelligente Substanz sitzt, beginnen die Zündschnüre des Krieges. Und dieser ist, nach einer Definition unserer Intelligenz, der Vater aller Dinge.

 

Wir sind clever. Am cleversten sind die größten Gehirne mit den intelligentesten Substanzen. Sie verbergen ein ganz besonderes Erfolgsgeheimnis hinter ihren eckigen Stirnen. Es lautet: Am erfolgreichsten ist der, der die Regeln für das Zusammenleben der großen Gehirne aufstellt und – mit Macht – dafür sorgt, dass alle sie befolgen, während er selbst die nutzbringenden Ausnahmen für sich in Anspruch nimmt.

 

*

 

Ach, liebe Helena, das große Gehirn von uns Menschen ist eine ungeheuer potente Bürde. Wie ich dir schon sagte, können wir bis ans Ende des Universums damit denken und bis in das Nichts schwarzer Löcher.

 

Aber wir werden von unserer intelligenten Substanz auch in einem atemberaubenden Tempo durch das Leben gepeitscht. Sie erfindet fast täglich eine neue Herausforderung für uns. Eigentlich ist der Mensch seinem Verstand gar nicht gewachsen. Wenn Menschen diese Wahrheit wüssten, würden sie wohl versuchen, ihn, diesen Verstand, loszuwerden. Manchen gelingt es sogar auf irgendeine Weise.

 

Die weitaus meisten aber sind unter Kontrolle. Denn der Verstand kann die Wahrheit verbergen. Allerdings nur, wenn er optimal entwickelt ist. Kinder und alte Menschen schaffen dies nicht. Aber Menschen mit gut entwickelter intelligenter Substanz, haben damit überhaupt keine Probleme. Gegen unbequeme oder unökonomische Wahrheiten können sie zum Beispiel die Heuchelei begehen. Wie sie begangen wird, muss ich dir, liebe Helena, mit einem Beispiel versuchen zu erklären. Ich will ein amüsantes Beispiel wählen. Es ist die wahre Geschichte von der weggeheuchelten Erotik, die sich zwischen zwei Menschen abspielt: Ein Mann geht über eine Wiese. Es ist Sommer. Er sieht eine Frau in einiger Entfernung, die Heu zusammenrecht. Sie ist goldblond wie dein Panzer, ihre Haut leicht gebräunt. Sie hat einen schlanken Körper und ist ziemlich hoch gewachsen.

 

Eigentlich befindet sich der Mann auf einem vorgegebenen Weg nach Hause. Aber sobald er die Frau erblickt, geht er, von seinem Fußpfad abweichend, querfeldein auf sie zu, was einen kleinen Umweg bedeutet. Er tut jedoch so, als sei dies schon immer seine Route. Also heuchelt er eine Selbstverständlichkeit, die aussehen soll wie Gleichgültigkeit oder Zufälligkeit. Seine Lust, der Frau näher zu kommen, verbirgt er dahinter.

 

Die Frau blickt aus der Ferne kurz auf. Sie sieht den Mann, fährt aber in ihrer Arbeit fort, als sei es nichts Besonderes, wenn jemand über die Wiese auf sie zuläuft. Sie heuchelt ebenfalls Selbstverständlichkeit, gerade so, als käme andauernd jemand vorbei. Aber in Wirklichkeit führt ja gar kein Weg hierher.

 

Der Tag wird von einem lauen, streichelnden Sommerwind durchfächelt. In der Luft verströmt sich süßer Heugeruch. Ein paar Grillen zirpen. Andere Menschen als die beiden sind weit und breit nicht zu sehen.

 

Die Frau hat aufregend schöne und sehr gepflegte Hände, die überhaupt nicht zu ihrer Landarbeit passen. Das sieht der Mann sofort, als er näherkommt. Das Haar ist weich und fällt in Wellen bis auf die Schultern. Wenn die Frau mit dem Rechen ausholt, treten an der Unterseite der Arme und am Oberarm-Muskel die Adern leicht hervor, was ihr etwas Kräftiges, Amazonenhaftes  verleiht.

 

Der Mann wirkt heiter. Er trägt kurze Sommerhosen, die kräftige Oberschenkel und athletische Beine freigeben. Sein Gesicht ist von Licht und Luft gesund gefärbt. Die ganze Person strahlt Männlichkeit aus. Federnde Schritte, stramme Hinterbacken – er sieht ganz so aus, wie Frauen sich Männer oft wünschen. Auf dem Kopf trägt er einen weißen Hut, und aus dem Ausschnitt seines Hemds kringeln rötliche Brusthaare hervor.

 

Liebe Helena, die beiden sehen sich an und haben durchaus Gefallen aneinander. Das sagen sie sich jedoch nicht. Sondern nur guten Tag und dass es heiß ist und die vielen Mücken zur Plage werden.

 

Patsch, klatscht die Frau mit der linken Hand auf ihre Wade. Dabei zieht sie das Knie an und beugt den Oberkörper nach vorne. Ihr Rock rutscht durch die Beinbewegung am Schenkel hoch, der Träger ihres Oberteils durch die Körperverlagerung von der Schulter herunter. Beinahe gleitet die Brust aus dem Stoff der Bluse. Der Ansatz ist heller als die umgebende Haut und wirkt dadurch besonders nackt. Die Frau hebt schon die Rechte, um den Träger wieder hochzuschieben. Aber dann geht ihre Hand doch zum Rechenstiel zurück, in eine Arbeitsbewegung über und sie dreht sich etwas zur Seite. Doch die winzige, verwischte Verzögerung ist für den aufmerksamen Betrachter zu erkennen. Dann hebt die Frau beim Weiterarbeiten unmerklich den linken Oberarm und die Schulter an, wodurch die Entblößung eine Idee zurückgeht.

 

Das alles dauert nur Bruchteile eines Augenblicks. Danach wechseln die beiden noch ein paar belanglose Worte, und der Man zieht weiter.

 

Die größte Heuchelei in dieser Geschichte ist beinahe nicht zu erkennen, und doch ist sie sehr typisch für uns Menschen, die wir immerfort Angst haben, wir könnten etwas von uns preisgeben.

 

Die Frau und der Mann sind bekanntlich an diesem wunderschönen Tag, dort wo sie sich begegnen, ganz allein. Sie treffen in einem abgelegenen Wiesental zusammen, weit vom nächsten Ort und können von niemandem beobachtet werden. Die beiden sind sich sympathisch. Sie zeigen davon aber nur ganz flüchtig etwas – durch ihr erstes Lächeln. Danach sehen sie sich kaum mehr an, legen sich keinesfalls ins weiche, duftende Heu, umarmen sich nicht und küssen sich nicht. Sie vermeiden jegliche spontane Herzlichkeit und jeden Ausdruck einer Lust.

 

Die Frau ist sich aber der erotischen Situation bewusst, auch wenn sie diese ganz entschieden wegheuchelt. Im Augenblick nämlich, als der Träger rutscht, so dass eine ihrer Brüste fast gänzlich entblößt wird, schiebt sie den Stoff nicht hoch, sondern lenkt die schon begonnene Bewegung ihres Daumens im letzten Augenblick um. Täte sie etwas anderes, würde sie also den Stoff hastig hoch schieben, um ihre Brust zu bedecken, dann gestände sie gerade damit ein, dass sie es wegen des Mannes täte, der ihr gegenüber steht, wenige Schritte entfernt, und sie als erotisches Wesen sieht.

 

Im Augenblick, als sie die Hand hebt, um sich wieder zu bedecken, wird ihr schlagartig bewusst, dass sie sich genau damit verrät. Also greift sie zum Rechenstiel statt zum Träger ihres Oberteils, um zu verbergen, woran sie soeben denkt. Sie verbirgt, dass sie daran denkt, dass der Mann durch den Anblick ihres teilweise entblößten Körpers Lust bekommen könnte und dass es ihr bewusst ist, dass sie genau daran denkt. Sie gibt sich den Anschein der ungetrübten, beherrschten und reinen Vernunft. Sie heuchelt die völlig unerotische Frau und verrät durch eine einzige kleine Bewegung doch, dass alles nur Lüge ist und Heuchelei.

 

Beide zerreden im Übrigen durch ihr Gestammel über Mücken und Hitze, was sie wirklich empfinden oder woran sie natürlich denken, weil sie ja um die Erotik ihrer Situation durchaus wissen. Und auch das ist gewollt. Als gäbe es nichts Schöneres und Wichtigeres an diesem Sommertag, in diesem Augenblick, zwischen den beiden Menschen, zwischen Mann und Frau als Schweiß und Fliegen.

 

Die Vernunft siegt. Die Moral, die aus Vernunft geboren ist. Sie arbeitet, er geht nach Hause. Das große Gehirn hat sich durchgesetzt. Die Tragödie findet nicht statt. Die Pfeile Amors bleiben im Köcher. Vernunft triumphiert auf der ganzen Linie. Unser großes Gehirn, das so etwas fertigbringt, ist wirklich das suffizienteste aller Organe, liebe Helena.

 

*

 

Der Mann lässt den Kopf auf die Brust sinken. Er flüstert in die Dunkelheit, die nichts zurückgibt: Alle Vernunft, alle Intelligenz sind hier wertlos geworden. Sie sind eine Last, weil sie mir nur meine Aussichtslosigkeit bewusst machen, aber keine Hoffnung mehr versprechen können. Ich bin ein Schiff in einem ausgetrockneten Ozean, ein Segler an einem Himmel ohne Luft. Was mich groß macht, was mich ausmacht als denkender Mensch, das alles wird hier zur Qual und zum schmerzenden Ballast.

 

Oh Helena, du bis die wahre Krönung der Schöpfung, denn du bist nicht besetzt von einem Geist, der dich hinabzieht. Du krabbelst unbeschwert am Rande des Nichts.

 

*

 

Der Mann schließt für eine Weile seine müden Augen. Als er die Lider wieder hebt, sieht er seine Hände, die in den Sand geglitten sind, grau und noch ohne richtige Konturen, neben sich auf dem Boden. Ein erstes, zaghaftes Morgenlicht beginnt sie nun zu modellieren. Er sieht, wie die Härchen auf seinem Handrücken aufstehen und im Licht aussehen wie lauter kleine Antennen. Die Hautporen darunter empfangen als Sensoren die aufkeimenden Schauder aus der Kälte und pflanzen sie bis in seine innersten Eingeweide fort

 

Behutsam schiebt der Mann nun mit den Fingern die oberste Staubschicht auf dem Boden beiseite. Er sucht erwartungsvoll mit weit hoch gezogenen Brauen und erbsgroß geöffneten Pupillen die Erde nach einer Spur von Helena ab...

Fortsetzung folgt

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Kommentare: 1
  • #1

    Werner (Donnerstag, 15 September 2016 08:49)

    Schluck. Das geht aber ans Eingemachte. Bin gespannt.