Weltkongress der Mitochondrienforscher in Berlin – auf den Spuren unserer bakteriellen Vergangenheit

Heute Morgen im Hotel Ritz Carlton am Potsdamer Platz 3, unweit vom Tiergarten: Ich rufe an, um zu erfahren, ob hier im Berliner Nobelhaus wirklich der 3. Weltkongress der Mitochondrienforscher tage. Zunächst herrscht ein verunsichertes Schweigen am Empfang. Dann die höfliche Frage „Was meinten Sie? Wie war die Frage bitte?“

Ich begann gerade das Wort Mitochondrien zu buchstabieren in der Hoffnung, dass der Begriff in einem Dokument auf dem Bildschirm meiner Gesprächspartnerin auftauchte. Sie unterbrach mich aber: „Ich werde mich erkundigen“. Und eine Minute (gefühlt) später kam der erlösende Satz: „Ja, die tagen bei uns, gestern und heute.“

 

Ich wusste durch Community Research and Development Information Service (CORDIS) von der Veranstaltung. CORDIS ist der Forschungs- und Entwicklungsinformationsdienst der Europäischen Gemeinschaft, herausgegeben vom Amt für Veröffentlichungen der EU. Eine entsprechende Meldung fand ich durch einen google-Alert. In der deutschen Presse nahm man von dem Ereignis keine Notiz. So wenig wie das Personal im Ritz.

  

Mitochondrienforscher sind Exoten

  

Dank CORDIS und google hatte ich auch den Veranstaltungslink erhalten: http://www.targeting-mitochondria.com Mehr Beachtung wurde der Schar internationaler Wissenschaftler in Deutschlands Hauptstadt nicht zuteil. Mitochondrienforscher sind Exoten. Wenn die Wildecker Herzbuben oder ein Jazz-Pianist im Ritz abgestiegen wären, das hätte sich wohl eher bis zum Empfang herumgesprochen.

 

Dabei erforschen die Wissenschaftler, die sich den Mitochondrien verschrieben haben, die Grundlagen unseres Lebens. Es wird von den durch uns so bezeichneten Mitochondrien seit dreieinhalb Milliarden Jahren angetrieben. Mitochondrien sind quasi das Leben. In allen Eukaryotenzellen, aus denen auch wir bestehen, produzieren sie die Energie, durch die Leben überhaupt nur vonstattengehen kann. Schon die frühesten eukaryotischen Einzeller wurden so energetisch-elektrisch angetrieben – sonst hätte es uns nie gegeben.

  

Mitochondrien sind kleine, abgegrenzte Bestandteile in den Zellen, die in der Evolution aus Bakterien hervorgegangen sind. Sie sind in unsere Zellen eingewandert bzw. mit ihnen verschmolzen. Sie teilen und vermehren sich noch immer wie Bakterien. Außerdem haben sie bis heute kleine eigene DNA-Moleküle, die als Mitochondrien-DNA oder mitochondriale DNA (mtDNA) bezeichnet werden.

  

Neben Ich – wie viele sind wir wirklich?

Die wichtigsten Aufgaben der Mitochondrien sind wie gesagt die der Energiegewinnung. Mitochondrien werden deshalb als die Kraftwerke der Zellen bezeichnet und ihre Energie, die sie liefern, das hochenergetische Molekül Adenosintriphosphat (ATP) wird die „universelle Energiewährung der Zelle“ genannt. Ohne ATP kein Leben, kein Gedanke, kein Gefühl, kein Muskel würde auch nur die geringste Zuckung ausführen. Weitere Informationen hier: http://www.medizin-welt.info/wissen/wissen.asp?wissenID=20 und vor allem in der Buchneuerscheinung "Neben Ich - wieviele sind wir wirklich?"

 

Schwerste Krankheiten durch Defekte in der Mitochondrien-DNA

 

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich an den letzten beiden Tagen im Berliner Ritz zusammengefunden hatten, befassten sich mit Defekten der Mitochondrien-DNA, die in jüngerer Zeit als Ursache für eine ganze Reihe von schwersten Krankheiten erkannt wurden. Betroffen sind dabei häufig Gewebe mit hohem Energiebedarf wie Muskeln und Nerven, bzw. Gehirn. Dazu zählen Alzheimer, Parkinson, Diabetes, Muskelschwächen usw.

Mitochondrienforscher sind den Defekten, die diese Krankheiten auslösen, auf der Spur. Das ginge natürlich uns alle an, mehr als jede Finanzkrise, jedes Show-Business und jede Prominentenscheidung. Bei den Mitochondrienforschern geht es ans Eingemachte, an die Grundlagen unseres Lebens und unserer Gesundheit. Wenn die Ex-Bakterien in unseren Zellen ihre Arbeit einstellen würden, wäre Sekunden später unser Leben zu Ende – jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Atemzug und alle Bewegungen.

 

Ein Weltkongress der Mitochondrienforscher müsste die größte Aufmerksamkeit überhaupt erregen. Aber Wissenschaftler wie Dr. Thomas Becker vom Institut für Biochemie und Molekularbiologie der Uni Freiburg, der einen vielbeachteten Vortrag auf dem Weltkongress hielt, interessiert im medialen Alltag kaum jemand.

 

Weltkongess-Teilnehmer aus Deutschland

 

Das gilt auch für die anderen Weltkongress-Teilnehmer aus Deutschland, wie Prof. Dr. Rejko Krüger von der Universität Tübingen, einem Erforscher der Parkinson-Krankheit. Er war in Berlin ein gesuchter Gesprächspartner. Oder Dr. Alessandro Prigione vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin, dem die Herstellung sogenannter induzierter pluripotenter Stammzellen (iPS) gelungen ist. „Diese Zellen entstehen nach geeigneter Behandlung aus normalen Körperzellen, haben aber die Eigenschaften embryonaler Stammzellen, d. h. sie können sich zu einer Vielzahl von Zelltypen differenzieren. Wegen ihrer Herkunft aus normalen Körperzellen werfen sie aber nicht die gleichen ethischen Probleme auf wie embryonale Zellen“, heißt es in einem Beitrag des Instituts. Mit Hilfe der von ihm entwickelten Methode werden Mitochondriendefekte erforscht, zum Beispiel im Bereich der Muskulatur. Auch Ansätze für die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung von Muskel- und Nervenzellen gehören zu seiner Arbeit. Er bekam in Berlin viel Beifall für seinen Vortrag.

Dr. Fabiana Perocchi von der Ludwig-Maximilians-Universität in München sprach über die Signalgebung in den menschlichen Zellen und über die Schlüsselrolle, die Mitochondrien in der Signalwahrnehmung und der Signalaussendung spielen.

 

Dr. Frank Gellerich vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg fand ebenso aufmerksame Zuhörer in dem internationalen Publikum im Hotel Ritz wie Dr. Tina Wenz vom Biozentrum der Universität Köln, einer Spezialistin für Alternsforschung und Krankheiten, die durch altersbedingte Defekte an Mitochondrien ausgelöst werden: Krebs, Diabetes und neurodegenerative Störungen.

 

Sponsoren für Mitochondrienforschung aus dem Mittelstand

 

Gesponsert wurde die Veranstaltung durch Bio-Institute wie das mittelständische Unternehmen Enzo Life Sciences GmbH aus Lörrach/Baden, ein biochemisches Labor für Forschung und Entwicklung, Bioanalytik und Bioinstrumente.

 

Nicht die Deutsche Bank oder Daimler oder Bertelsmann engagieren sich in der Mitochondrienforschung und auch nicht die Stadtwerke Bochum, die Politikern Vortragshonorare von 25.000 Euro bezahlen. Davon können Mitochondrienforscher nur träumen.

 

Mitochondrien werden nur über die mütterliche Linie vererbt. Mitochondrien sind unsere Mütter. Aber wir kennen sie nicht. Nur die Exoten vom Weltkongress und die Biochemiker weltweit in ihren Laboren, interessieren sich dafür. Kaum jemand sonst weiß etwas über Mitochondrien. Über unsere Mütter. Längst wäre ein Muttertag fällig – ein Tag des Mitochondriums und viel Aufklärung über dieses Milliardenjahre alte Bakterien-Erbe in unseren Zellen.

 

 

 

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